NICHT OHNE DEINE NÄHE. Hospitalismus empathisch heilen und vorbeugen
Projekt - Modell - Praxisbegleitung - Prävention - "Amoris Laetitia"
EINFÜHRUNG
Erst der Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 hat viele von uns auf eine brisante Problematik in unserer Gesellschaft aufmerksam gemacht: den Hospitalismus. Bislang hatten wir unter „Hospitalisierung“ eher verkürzt die Einweisung in ein Krankenhaus („Hospital“) verstanden.
Hospitalismus bzw. Hospitalisierung als Sammelbegriff für gravierende Folgeerscheinungen des Abgeschottetseins und der Vereinsamung, wie sie uns erst kürzlich in den Medien vor allem aus Seniorenheimen und Krankenhäusern vor Augen geführt wurden: Aufgerüttelt durch diese Bilder sind mir nach Jahren auch wieder hospitalisierte Heimkinder in R. in den Sinn gekommen, mit denen ich einst gearbeitet hatte. Einzelne Jugendliche habe ich später in Eigeninitiative weiter betreut, auch in Haftanstalten, und einen retardierten, jugendlichen Küchenarbeiter, hier „Markus“ genannt, sechs Jahre lang in einer vielleicht einzigartigen Verbindung betreut und vor der damals bereits beschlossenen Entmündigung („Besachwaltung“) bewahrt.
Nur wenige Jahre danach ausführlich zu Papier gebracht, habe ich auf die wahre Geschichte von „Markus“ und mir, „Irene“, aus den Jahren 1978-1984 erneut zurückgegriffen, sie für dieses Buch in Kapitel I. als narrativ-theologische Fallstudie nur geringfügig überarbeitet und mit einigem Bildmaterial dokumentiert. Damit ist es auch möglich geworden, Hospitalismus einem konkreten Charakterbild zuzuordnen. Anfangs hatte ich noch überlegt, meinen Bericht etwas zu kürzen, diesen Gedanken jedoch bald wieder verworfen, um ausreichend Authentizität zu gewährleisten und Sie, meine sehr geschätzten Leserinnen und Leser, unverfälscht in die ursprüngliche Atmosphäre des Geschehens in der „Josefsehe“ einzubeziehen. Zugleich wird damit die Entstehungsgeschichte eines Modells „Betreute Wohngemeinschaft“ sichtbar, das mittlerweile
nicht nur in unseren Breiten zum sozialpädagogischen Alltag zählt, nochmals kurz resümiert in Kapitel II.
Kapitel III. gibt einen fundierten Überblick über Hospitalismus und dessen Symptomatik als Folge eines Entzugs an Zuwendung. Deprivation bzw. Entwicklungsretardierung wird veranschaulicht und in Abschnitt III.1.4. die vielfältige Symptomatik von Hospitalismus am Beispiel „Markus“ aufgefächert. Konkrete Ansätze zu einem empathischen Umgang mit hospitalisierten Menschen, vor allem Kindern und Jugendlichen, auch in der Pfarrgemeinde, sowie ein kurzer Einblick in den Begriff der „Weggemeinschaft“ in der Integrativ-christlichen Therapie von Alfred Adler ergänzen den Praxisbezug des Buches in diesem Kapitel.
Wie aber ist Hospitalismus zu vermeiden, wie ihm vorzubeugen? Die Frage der Prävention beschäftigt nun zunehmend Verantwortliche in der Kirche, in Krankenhäusern und Altenheimen, in Familien, Pflegefamilien, Kindergärten, Schulen und Haftanstalten. Mit freudiger Überraschung habe ich festgestellt, dass das bisher zu wenig beachtete, weil meist nur kurzgelesene Nachsynodale Apostolische Schreiben „Amoris Laetitia“ von Papst Franziskus so umfassende Ansätze dazu bietet, dass es sich lohnte, es für dieses Buch heranzuziehen. Daneben habe ich aus Ihren Wortmeldungen, liebe Leserinnen und Leser, erfahren, dass es vielen in der Kirche schlicht aus Zeitmangel nicht möglich ist, Amoris Laetitia ausreichend zu studieren, obwohl das Interesse vorhanden wäre. Deshalb bringe ich Ihnen hier in Kapitel III.3. eine Kurzzusammenfassung aller Passagen in dem päpstlichen Dokument zum Thema Familie, die für eine Vorbeugung von
Hospitalismus relevant sind, und das übersichtlich auf überschaubaren 20 Seiten. Amoris Laetitia hat, studiert man das Schreiben in vollem Umfang, nach anfänglicher Ernüchterung auch eine Lösung für den Sakramentenempfang bei Wiederverheirateten Geschiedenen eröffnet, weit über die ins Auge springenden Fußnoten 329, 336 und 351 in Punkt 300 hinaus.
Im folgenden Kapitel IV stelle ich deshalb als „Exkurs“ die aktuelle kirchenrechtliche Lage des Begriffs „Josefsehe“ vor, früher der einzige kirchenrechtlich gesicherte Zugang zu den Sakramenten Buße und Kommunion für Betroffene. An eine Betrachtung der Josefsehe aus empirischer und psychoanalytischer Sichtweise schließt also auch hier ein pointierter Einblick in Amoris Laetitia an – mit durchaus erfreulicher Schlussfolgerung: Volle Integration im kirchlichen Leben auch für Wiederverheiratete Geschiedene und ihre Kinder als Vorbeugung von Hospitalismus. Dabei habe ich mir erlaubt, in einem „zweiten Blick“ nochmals kurz auf jene Passagen des päpstlichen Schreibens hinzuweisen, in die meine jahrzehntelange Arbeit – in den vorbereitenden Bischofssynoden präsent – definitiv eingeflossen ist.
Ich beende dieses Buch mit einem „Ausblick“: Meiner Überzeugung nach ist es unumgänglich, die pastoralen Entscheidungen zugunsten des Sakramentenempfanges bei Wiederverheirateten Geschiedenen auch festzuschreiben und abzusichern in meinem Ansatz einer „Dokumentierten pastoralen Regelung zum Sakramentenempfang bei wiederverheirateten Geschiedenen“.
Zusammenfassend bin ich der Überzeugung, dass wahre Heilung einzig in einer gelebten, lebendigen Beziehung zu Jesus Christus möglich ist. Nur Gott vermag dauerhaften Frieden zu schenken und die innere Leere im Menschen auszufüllen. Wir dürfen die Bedeutung der Christusbeziehung neben den inzwischen hochentwickelten Therapieangeboten niemals geringschätzen und vernachlässigen; vielmehr ist sie unbedingt zu integrieren, damit menschliches Bemühen nicht Stückwerk bleibt.
Nun aber lassen Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, vorerst hineinnehmen in mein – wie ich meine, auch spannendes – „Projekt Markus“! Thematisiert sind Heimerziehung versus Wohngemeinschaft (hier als „Josefsehe“ gelebt), Hospitalisierungssymptomatik, wie sie sich im praktischen Alltag manifestiert, religiöse Motivation und spirituelle Erfahrung (Therese von Lisieux), Bildsamkeit und Heilungschancen, Integration, Förderung und Überforderung, Fortschritte und Misserfolge, Berechenbarkeit und Gefahrenpotential bei Hospitalismus, ganzheitlicher Einsatz und Grenzerfahrung.