Norm-Konform
Historische Substanz im Zwiespalt
Alfred Bramberger, Hermann Fuchsberger, Andreas Hild, Niklaus Ledergerber
Das seit 1894 von der Grazer Stadtregierung genutzte Rathaus ist das dominante Baudenkmal am Grazer Hauptplatz, seine Kuppellandschaft steht im Zentrum des UNESCO-Welterbes Graz „Historisches Zentrum“. Generationen von PolitikerInnen, MagistratsmitarbeiterInnen und BürgerInnen sind die Stufen der monumentalen Treppenanlage empor geschritten oder eilig über eine der Seitentreppen gehuscht. Nie war für sie relevant, ob eine Treppe mehr als 20 Stufen ohne Absatz aufweist oder ob ein höheres und niedrigeres Treppengeländer jede noch so niedrige Vorlegestufe begleitet, zumal es seit geraumer Zeit eine barrierefreie Erschließung des Rathauses über zwei Lifte gibt. Immer aber war die Ästhetik der Stiegenhäuser einen bewundernden Blick wert, und sie wird mitunter durch wechselnde Kunstwerke noch pointiert in Szene gesetzt.
Im Lichte sich ständig erneuernder Baunormen aber erscheint plötzlich nicht nur das seit über 100 Jahren durch seine Ästhetik und Funktionalität überzeugende Rathaus, sondern viele historische Häuser nur mehr teilbenutzbar zu sein: Rampen und Geländer müssen als „Sicherungsmaßnahme gemäß OIB-Richtlinie“ errichtet werden, auch wenn der Hausverstand sich dagegen sträubt.
Plötzlich müssen Parapete in öffentlichen Büroräumen mit Glasscheiben zusätzlich gesichert und zu niedrige Balkonbrüstungen oder Stiegengeländer erhöht werden, weil es den Menschen sicherheitstechnisch nicht zumutbar ist, gefahrlos durch ein historisches Baudenkmal zu gehen, das – wie im Falle des Grazer Rathauses – bestens in Stand gehalten ist.
In der Öffentlichkeit regt sich Widerstand und Protest nicht nur unter Denkmalerhaltern, denn was seit 100 Jahren unverändert funktioniert, kann nicht auf den Stichtag unbenutzbar werden!
Bauwirtschaft und EigentümerInnen beklagen die überbordenden und nicht zwischen Neu- und Altbau unterscheidenden Regeln und sprechen von einer „Normenflut“, die das Bauen sinnlos verteuert und gestalterisch unsägliche Eingriffe in Baudenkmäler fördert. Tatsächlich reden wir aber von keiner „Naturgewalt“, sondern von handfesten Interessen einer Bauvorschriftenproduktion
Ihre positive Absicht, im Sinne der Vergleichbarkeit, Anwendbarkeit und Sicherheit so manche Gesetzeslücke zu schließen und auf neue Entwicklungen zu reagieren, wird niemand in Abrede stellen. Viele Baunormen führen jedoch über den Umweg der kritiklosen Aufnahme in die Bautechnikverordnungen der Länder zu einer Wertigkeit, die entschieden gegen die Reglements der Baudenkmalerhaltung gerichtet ist. Einmal im Gesetzesrang, wird die Norm als „Stand der Technik“ zum Angelpunkt jeden Rechtsstreits.
Aber welchen Anspruch erfüllt das Grazer Rathaus als
Baudenkmal? Den höchsten: Als gebautes Symbol der bürgerlichen Macht, als architektonischer Angelpunkt in der Altstadt und als Symbol für die GrazerInnen, die in „die Stadt fahren“, weil sie ihre Altstadt lieben und das schon vielfach kämpferisch unter Beweis gestellt haben.