Ortsbegehungen
Topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards "Der Italiener" und "Auslöschung"
Steffen Vogt
Das auffälligste Charakteristikum der Erinnerungspoetik von Thomas Bernhard ist die Konstruktion und Rekonstruktion von Vergangenheit qua Ortsbegehung und -besichtigung. Die Frage nach der Verbindung von Ort und geschichtlicher Erfahrung hat Bernhard in seinem umfangreichsten Roman Auslöschung am Beispiel des österreichischen Schlosses Wolfsegg durchgespielt. Vergleicht man den Roman mit dem frühen Prosafragment Der Italiener, so erweist sich das Wolfsegg-Motiv als poetische Konstante in Bernhards Prosa. Mit der erzählerischen Konzentration auf Orte referiert Bernhard implizit auf das schon in der Antike entwickelte Konzept des Erinnerungsortes, das in den letzten Jahren im Kontext der Debatte um Gedenkkultur sowie im Rahmen der Rekonstruktion einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses eine beeindruckende Konjunktur erlebt. Indem gezeigt wird, wie Bernhard mit seinen „Wolfsegg-Texten“ auf die zeitgenössischen literarischen und politischen Versuche einer „Vergangenheitsbewältigung“ reagiert hat, wird es möglich, das Klischee von der monomanen Befangenheit seiner Prosa einer nachhaltigen Revision zu unterziehen.