Pest, Folter und Schandsäule
Der Mailänder Prozeß wegen "Pestschmierereien" in Rechtskritik und Literatur
Helmut C Jacobs, Ezequiel Malarino, Thomas Vormbaum
Derselbe Mailänder Pestschmierer-Prozess aus dem 17. Jahrhundert wurde mehr als hundert Jahre später und dann abermals einige Jahrzehnte später von einem Juristen und einem Schriftsteller literarisch verarbeitet.
‚Pietro Verri‘, für italienische Juristen eine Berühmtheit, deutschen Juristen weniger bekannt, hat an Cesare Beccarias epochalem Werk ‚Dei delitti e delle pene‘ intensiv mitgewirkt – wie intensiv, ist nicht restlos geklärt; einige Informationen darüber bietet der Kommentar von Ezequiel Malarino in diesem Band. Verris Herangehensweise an die Problematik der Strafrechts- und Strafprozessreform gleicht derjenigen Voltaires im Fall ‚de la Barre‘. Im Vordergrund steht die menschliche Empörung über das den Inquisiten zugefügte Leid aufgrund der abenteuerlichen Beschuldigung, „Pestschmierereien“ vorgenommen zu haben. Die Empörung richtet sich gegen das herrschende System des Strafverfahrens, das solche Vorgänge produziert. So entsteht ein klassisches Werk aufklärerischer Justizkritik.
‚Alessandro Manzoni‘, der wohl bedeutendste italienische Romancier des 19. Jahrhunderts, hat eine andere Sicht auf die Dinge: Ihn interessieren die Gründe, die Menschen solche Grausamkeiten wie die Folter begehen lassen. Er führt die Grausamkeit im „Pestschmierer“-Fall nicht auf ein System zurück, sondern auf menschliche Schwächen und Begierden. Dies führt ihn dazu, die Rechtsquellen genauer zu lesen; und er stellt fest, dass, wäre man den Rechtsquellen gefolgt, die Verri selbst angeführt hat, die Folter im gegebenen Fall gar nicht hätte angewendet werden dürfen. Es waren die Furcht und die Wut der Richter, die Vernunft und Mitleid wegspülten und sie über alle rechtlichen Schranken sich hinwegsetzen ließen. Der Schandsäulen-Prozess litt nach Manzoni nicht unter dem ‚Missstand‘ der Folter, sondern unter ihrem ‚Missbrauch‘. Erst wenn Rationalität und (Mit-) Menschlichkeit nicht mehr unverbunden nebeneinander stehen oder letztere gar als zwangsläufige Folge jener angesehen wird (wie dies bei den Aufklärern, nicht zum Vorteil der Menschlichkeit, oft geschieht), sondern als deren Kontrolle eingesetzt wird, ist Aufklärung verwirklicht, denn zu der Entlassung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, d.h. zur Autonomie des vernünftigen Wesens gehört nicht nur der Gebrauch des Verstandes – dies ist das Mindeste –, sondern auch das Bewusstsein von dessen Grenzen, von dessen Gefährdungen und von dessen Missbrauchsmöglichkeiten.