Politik und Religion in Nordkaukasien
Das Verhältnis von Islam und Widerstand am Beispiel von Tschetschenen und Inguschen (1757–1961)
Christian Paul Osthold
In der Geschichte Russlands spielt Tschetschenien eine unikale Rolle. Wie kein anderes Volk, das die Zaren im Zuge der Errichtung ihres Imperiums bekämpften, haben die Tschetschenen sämtliche Versuche, sie unter die russische Oberherrschaft zu zwingen, stets mit großer Vehemenz beantwortet. Das Streben, die eigene Unabhängigkeit zu verteidigen, zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die tschetschenische Geschichte und hat eine jahrhundertelange Kontinuität gebildet. Seit mehr als 250 Jahren tobt ein Konflikt, der mit wenigen Unterbrechungen bis ins frühe 21. Jahrhundert reicht und in Europa vor allem durch die postsowjetischen Tschetschenienkriege wahrgenommen worden ist. Die verheerende Kraft dieser Auseinandersetzung entspringt seit jeher einem ideologischen Gemisch, dessen einmal ausgelöste Zündung die zerstörerischen Flammen der Gewalt immer wieder zu einer mächtigen Feuersbrunst auflodern ließ. Bereits 1757 setzte der erste umfangreiche Feldzug der Russen eine Spirale ausufernder Gewalt in Gang, die in der Folgezeit kontinuierlich akzelerierte und 1785 in eine gewaltige Insurrektion mündete. Dass diese erstmals im Rekurs auf den Islam erfolgte, nämlich als Dschihad zur Vertreibung der Ungläubigen, bestärkte die russischen Entscheidungsträger in ihrem Urteil, die tiefreichende Manifestation des religiösen Fanatismus eines Volkes zu erleben, dessen präzedenzlose Gepflogenheiten der Gesetzlosigkeit und der Barbarei jedwede Koexistenz unmöglich machten. Dieser höchst arrogante Befund war dafür verantwortlich, dass man das Verhalten der Tschetschenen nun in einen religiösen Referenzrahmen setzte und fortan sämtliche Formen von Intransigenz als Beleg für den antirussischen Charakter ihres Islam deutete. Dieses unauslöschliche Stigma haftet den Tschetschenen heute nicht mehr nur im Bewusstsein der russländischen, sondern auch der internationalen Öffentlichkeit an.Vor diesem Hintergrund geht die vorliegende Studie der Frage nach, inwieweit diese Prämisse tatsächlich zutrifft. Hierzu wird das Verhältnis von Islam und militantem Widerstand gegen den Zentralstaat im Verlauf von 204 Jahren untersucht. Im Ergebnis liegt ein theoretisches Modell vor, welches den Islam als multifunktionalen Stabilitätsregulator des tschetschenischen Sozialgefüges beschreibt. Dabei zeigt sich, dass der Islam zwischen 1757 und 1961 verschiedene sozial wirksame Funktionen aggregierte, die er nach einmal erfolgtem Erwerb nicht mehr einbüßte. Obwohl sich diese Funktionen jeweils in verschiedenen Situationen manifestierten, generierten sie doch stets denselben Effekt: Sie stärkten die Binnenkohäsion des tribalen und zutiefst fragmentierten tschetschenischen Sozialgefüges gegenüber der militärischen Expansion des Zentralstaates sowie dessen Versuchen, die traditionelle Gesellschaft der Tschetschenen durch exogene Gewalteinwirkung zu verändern.