Progressiver Islam in Theorie und Praxis
Die interne Kritik am hegemonialen islamischen Diskurs durch den "roten Scheich" Abdallah al-Alayili (1914-1996)
Manfred Sing
Die Untersuchung dreht sich um die Frage, wie ein „anderer“ – von der „Orthodoxie“ abweichender – Islam aussieht, auf welche Schwierigkeiten er stößt und wie er zu bewerten ist. Im Zentrum steht das 1978 veröffentlichte Werk „Ayna l-hata’?“ („Wo liegt der Fehler?“) des libanesischen Religionsgelehrten Abdallah al-Alayili, der den Islam als „dynamische Ideologie“ und die Scharia als deren „praktische“ Umsetzung auffasste. Aus dem Koran folgerte er etwa, dass die Körperstrafen nicht mehr angewandt werden sollten, die Ehe zwischen einer Muslimin und einem Christen erlaubt sei und die Einkünfte aus dem Ölgeschäft allen Muslimen zustünden. Al-Alayili war ein anerkannter Philologe, gehörte zu den Gründervätern der „Progressiven Sozialistischen Partei“ Kamal Joumblatts und stand zeitweise den Kommunisten nahe. Sein Buch wurde nach kurzer Debatte vom Markt genommen und konnte erst 1992 neu aufgelegt werden. Der Konflikt dient als Ausgangspunkt für eine soziologische Analyse des Kampfes um symbolische Macht zwischen Intellektuellen und offiziellen Religionsvertretern im 20. Jahrhundert. Ein progressiver Islam, der auf einer zweidimensionalen Sichtweise von Ideal und Praxis beruht, stellt die hegemonialen Diskursvarianten in Frage, weil diese auf einer eindimensionalen Denkweise basieren, nämlich dass ein Mehr an Moderne ein Weniger an Islam bedeute. Der Fokus der Studie führt auch zur Kritik wissenschaftlicher Thesen über die arabischen Modernisierungskrisen, weil diese Thesen meist nur den hegemonialen Islam in Betracht ziehen, progressive Muslime aber ausklammern und dadurch indirekt delegitimieren.