Reformen der Geschichte
Lutz Vordermayer
Die Geschichte lässt den Menschen der Gegenwart allein.
Ratlos blickt er auf Regale, irrt in Bibliotheken umher und blättert in Enzyklopädien, erschlagen von der Fülle der dargestellten Ereignisse. Dem Arzt und Autor Gottfried Benn erschien die Ereignisgeschichte gar als die Krankengeschichte eines Irren. Es fehlt eine Orientierung über den dünnen chronologischen Faden hinaus, doch jenseits von Ideologie und Spekulation. Weit entfernt von ihrem einst reklamierten Titel einer Lehrmeisterin der Menschheit, begnügt sich die Geschichtsschreibung mit Exkursionen in das Meer der Zeit.
Dabei könnte es mehr sein.
Wirft man einen Stein ins Meer, so entstehen zunächst konzentrische Kreise, dann gerät er in das Auf und Ab der Wellen, um schließlich beim Sinken von einer Tiefenströmung erfasst zu werden.
Mit diesem Bild erläutert der französische Historiker Fernand Braudel seine Unterscheidung dreier Zeitebenen in der Geschichte: Unterhalb der erratisch gekräuselten Oberfläche der Ereignisgeschichte verbergen sich langsamer pulsierende Konjunkturen und – noch tiefer- nahezu konstante Strukturen. Die beiden unteren Ebenen unterliegen einer verborgenen Regelmäßigkeit.
Braudel gab seinerzeit das Versprechen, mit Hilfe seines Zeitmodells Geschichte systematisch zu erfassen.
Dieses Versprechen wird im vorliegenden Werk eingelöst.
Dabei kommt der Verfasser nicht um die Warnung umhin, dass sich in seiner Darstellung eine Formel verbirgt, deren schlichtes Prinzip jedem Leser eingängig sein wird: Teilt man die Summe aller günstigen Umstände durch die Summe aller Hindernisse so erhält man einen aussagekräftigen Quotienten. Zugegeben, durch die Einbeziehung von Braudels Zeitebenen wird es etwas komplizierter, doch bedarf der Leser keiner höheren Mathematik zum Nachvollziehen der vorliegenden Führung durch die Reformen der Geschichte, ergänzt durch Chronologie, Kartenmaterial und Epiphanie.