Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland
Sandra Pott
Als „innerweltliche Askese“ beschrieb Max Weber die reformierte Religion und Lebensführung. Für deutsche und „frankophone“ Texte (Lehrbücher, Essays, Periodika, Reden/Rededramen, philosophische Romane) des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts zeigt diese vergleichende, literatur- und denkgeschichtliche Untersuchung, daß die Beschreibung Webers zwar zutrifft, aber zu kurz greift: Wenn reformierte Gelehrte wie der Naturrechtler Jean Barbeyrac, der Prediger-Philosoph Jean Henri Samuel Formey, der Mathematiker Jean Pierre de Crousaz und der Mediziner-Dichter Albrecht von Haller „rationalen“ Morallehren (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Christian Wolff) zuneigten, dann bestand ihre Leistung darin, diese „empirisch“ zu prüfen, die „Bedrohung“ durch die Skepsis abzuwehren und das Ergebnis in „angenehmer Form“ zu verbreiten. Sie pflegten den Austausch mit Gelehrten unterschiedlicher Herkunft und Anschauung, traten für Toleranz und für die Vereinigung der protestantischen Kirchen ein. Deutsche Autoren wie Johann Christoph und Luise Adelgunde Victoria Gottsched teilten ihre Anliegen und folgten dem französisch-reformierten Vorbild. Christoph Martin Wieland aber kritisierte die „rationalen“ Morallehren im philosophischen Roman – um sie als eine Denkmöglichkeit zu erhalten. Denn die „empirische“ und gemäßigte Aufklärung betrachtete sich bereits als durch radikale Philosophien gefährdet. In der Literatur suchte sie eine Zuflucht.