Reste altorientalischen Prophetentums in der Bibel
Martti Nissinen
Julius Wellhausen hat maßgeblich zum Verständnis der biblischen Prophetie beigetragen und gilt als einer der Erzväter des Prophetenbildes des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit seinen Zeitgenossen rechnete er mit der evolutionären Entwicklung der israelitischen Religion, wobei die großen biblischen Propheten eine entscheidende Rolle spielten, indem sie die alte, der altorientalischen Umgebung ähnelnde Volksreligion “zu etwas anderem” machten. Zur Zeit Wellhausens waren die Quellen der außerbiblischen altorientalischen Prophetie schlecht bekannt, heute sind wir besser in der Lage, die biblische Prophetie gegen ihre altorientalische Hintergrund betrachten. Anhand der uns heute bekanntenTexten sind die „Reste altorientalischen Prophetentums“, d.h., die der altorientalisch-ostmediterranen Prophetie typischen Eigenschaften im Alten und sogar im Neuen Testament deutlich zu sehen. Unter solchen Merkmalen werden sowohl der Wort-Gottes-Begriff, die Verschriftlichung der Prophetie und die politische Bedeutung der Prophetie als auch der Tempel als die „geistige Heimat“ der Propheten, die Genderinklusivität und die prophetische Ekstase betrachtet.