Selbsterkenntnis in der Geschichte – Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung im 20. Jahrhundert (Bd. 3)
Vom Mythos zur Verfassungskrise 1983-2000
Lorenzo Ravagli
Die beiden letzten Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende stellten die Anthroposophische Gesellschaft vor bedeutende Herausforderungen: einen beispiellosen Aufschwung der Tochterbewegungen ab den 1990er Jahren und eine tiefgreifende Krise in ihrem Selbstverständnis.
Auf verschiedenen Lebensfeldern etablierte sich die Anthroposophie als alternative Kulturbewegung und wurde als solche von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Ihre spirituell fundierten Angebote zur Erweiterung der Berufspraxis in Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft, Bankwesen und auf anderen Gebieten stießen auf zunehmende Anerkennung, aber auch Ablehnung. Je mehr sich führende Vertreter der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung in den öffentlichen Diskurs einbrachten, um so mehr stießen sie auf differenzierte Resonanz, bis hin zu herber Kritik.
Beflügelt wurde die Erfolgsgeschichte der Tochterbewegungen durch den welthistorischen Umbruch zu Beginn der 1990er Jahre. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks riefen die durch Anthroposophie inspirierten Lebenspraxen ein überwältigendes Echo hervor. In zahlreichen Ländern blühten neue Initiativen auf. Die geographische und quantitative Ausdehnung brachte jedoch das Problem der Überdehnung mit sich, die als Qualitäts- und Substanzverlust wahrgenommen wurde. Die Aufnahme der Anthroposophie in nicht-westlichen Kulturen warf ganz neuartige Probleme auf.
Gleichzeitig wurde die große spirituelle Erzählung, von welcher die Sendboten der anthroposophischen Bewegung auf allen Kontinenten beseelt waren, von religiösen und politischen Gegenbewegungen in Frage gestellt. Die anthroposophische Bewegung sah sich mit politischen Kampagnen konfrontiert, auf die sie entsprechende Antworten finden musste. Die Anschuldigungen reichten vom Sekten- bis zum Rassismusvorwurf.
Die Konfrontation mit Kritik führte nicht nur zu Abwehr, sondern auch zu Selbstkritik. Immer mehr begann die Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung ihre Grundlagen in Frage zu stellen. Ihre geistige und rechtliche Verfassung wurde für sie selbst zum Problem. Die 1990er Jahre waren gekennzeichnet von der Suche nach Orientierung in einem unüberschaubar werdenden Umfeld. Gebieterisch erhob sich der delphische Ruf nach Selbsterkenntnis, der sowohl an die einzelnen Mitglieder der
Gesellschaft als auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet war. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend sah sich die wirkmächtigste esoterische Reformbewegung des 20. Jahrhunderts, die einst angetreten war, die abendländische Zivilisation aus ihren spirituellen Grundlagen zu erneuern, vor die Alternative gestellt: Erneuerung oder Untergang.