Sprache als fait culturel
Studien zur Emergenz, Motiviertheit und Systematizität des Lexikons des Minderico (Portugal)
Ilona Schulze
Die alltagssprachliche Erfahrung ist gemeinhin mit der Annahme verbunden, dass Sprache Teil des kulturellen Wissens einer Sprachgemeinschaft darstellt. Die Monographie geht dieser Frage systematisch nach. Sie präsentiert ein umfassendes Modell von Sprache, das deren Eigenschaft als „fait culturel“ aus einer kognitiv gegründeten, soziologischen und historischen Perspektive ableitet und in Bezug setzt zur Funktionalität von Sprache an sich. Es wird gezeigt, dass Sprache grundsätzlich sowohl als kulturelles Artefakt als auch als kulturelle Gegebenheit verstanden werden muss. Als Teil des symbolischen Wissens reflektiert besonders das Lexikon die sozial vermittelten kulturellen Traditionen einer Sprachgemeinschaft. Gleichzeitig bildet sie auch Modelle (frames) der Interaktion der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft mit ihrer sozialen und ökonomischen Umwelt ab und reflektiert Modelle kollektiver Identität und Kulturalität. Die zugrunde liegenden Prozesse sind in vielen Sprachen über lange Zeiträume der Tradierung eines Sprachwissens stark verdunkelt. Daher widmet sich der empirische Teil der Studie zur Illustration des Ansatzes einer Sondersprache (Minderico in Portugal). Diese hat sich seit dem 18. Jahrhundert ausgeprägt und zu einem vollständigen kommunikativen System in der kleinen Ortschaft Minde (Zentralportugal) entwickelt. Das Minderico hat in weiten Teilen seinen Wortschatz nach und nach geneuert. Im Gegensatz zu anderen Sondersprachen greift das Minderico dabei kaum Entlehnungsstrategien auf. Stattdessen geht es vom lexikalischen Material des Portugiesischen aus. Dieses wird durch diverse Prozesse (Metonymisierung, Metaphorisierung, Anthroponym- und Toponym-basierte Neologismen usw.) in einem Umfang verändert, dass das Sprachsystem zu einem umfassenden Typ der Binnenkommunikation mit identitätsabbildenden Funktion hin profiliert wird. Die systematische Analyse der betroffenen lexikalischen Bereiche zeigt, in welchem Umfang hier (ehemalige) für die Ortschaft Minde typische, lebensweltliche Faktoren wirksam geworden sind. Zugleich lässt sich die Eigenschaft von Sprache als „fait culturel“ empirisch substantiieren ebenso wie gezeigt wird, wie sich die Verkörperung des „fait culturel“ im Lexikon einer Sprache rekonstruieren lässt.