Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Zur Linguistik der Beschwerde am Beispiel der „cahiers de doléances“
Sandra Issel-Dombert
Bis heute nehmen französische Politiker und Graswurzelbewegungen Bezug auf „cahiers de doléances“ aus dem Ancien Régime als urdemokratisches Legitimationswerkzeug zur Selbstdarstellung, zur Bündelung von Meinungen und zur Aushandlung gesellschaftlicher Interessen. Der Vorläufer der Petition ist in das kollektive Gedächtnis als „französisches Rezept“ politischer Partizipation von unten eingegangen. Als Sprachrohr zur demokratischen Artikulation dokumentiert die Textsorte nicht nur den von ihren Verfassern beschriebenen Ist-Zustand einer Gesellschaft, sondern auch darüber hinaus reichende Zukunftsvisionen. Sie kann so gleichermaßen als Stimmungsbarometer wie als französische Gesellschaftsgeschichte gelesen werden. Ausgehend von einer kulturorientierten Linguistik wird in dieser Studie die Entwicklung der „cahiers de doléances“ vom Beginn ihrer Überlieferung bis zu deren Ende nachgezeichnet. Die Arbeit wurde mit dem „Prix Germaine de Staël“ sowie mit dem Förderpreis „Sprache und Recht“ der Universität Regensburg ausgezeichnet.
To this day, French politicians and grassroots movements refer to the cahiers de doléances of the Ancien Régime as a primordial democratic legitimation tool for self-expression, for the pooling of opinions and the negotiation of social interests. The precursor of the petition, it has entered collective memory as the „French recipe“ of political participation from below. As a mouthpiece for democratic articulation, this text type not only documents the actual state of a society described by its authors, but also far-reaching visions of the future. It can thus be read equally as an indicator of the disposition prevalent in a society at a given time, but as a social history of France as well. Based on culture-oriented linguistics, this study traces the evolution of the cahiers de doléances from the beginning of their lore to its end. This study work was awarded the „Prix Germaine de Staël“ as well as the advancement award „Language and Law“ of the University of Regensburg.