Sternsekunden der Musik in Kompositionen aus fünf Jahrhunderten
Peter Petersen
Aus dem Vorwort des Autors: Musik ist auf besondere Weise zeitgebunden. Wie ein fluider Gegenstand entfaltet sie sich vor uns als Musizierenden oder Lauschenden, indem von Moment zu Moment Klangereignisse eintreten, die wir als gestaltetes Geschehen wahrnehmen und im Gedächtnis bewahren. Jeder neue Ton, jede weitere Klanggestalt wird auf vorher Gehörtes rückbezogen, und indem sich Zusammenhänge offenbaren, entsteht in Kopf und Herz ein bestimmtes Musikstück.
Ein einzelnes Klangereignis kann (bei Live-Darbietung von Musik) nicht erneut angehört werden, anders als in bildender Kunst, wo man eine Farbe oder ein Motiv wiederholt ansieht. Im Fortgang eines Musikstücks werden die Klangmomente aber erinnert und als Bezugspunkte herangezogen, so lassen sie sich genauer erfassen und vielleicht mit anderen Momenten vergleichen. Manche solcher Klangmomente sind besonders beschaffen. Sie sind wie Schlüssel, die den Zugang zu einem Werk eröffnen.
Mir sind im Laufe meines (musikalischen) Lebens viele solcher besonderen, ungewöhnlichen Klangmomente begegnet. Es handelt sich um kurze, flüchtige Klangszenen, die in der Regel nach Sekunden zu bemessen sind. Und doch ist ihnen eine intensive Strahlkraft eigen. Sie graben sich als Sonderereignisse mit Tiefendimension ins Gedächtnis ein, es sind »Sternsekunden der Musik«.
Ich möchte in diesem Buch spezielle Ereignisse in Kompositionen betrachten und erörtern, an denen Weichen gestellt werden, Prozesse ihr Ziel finden, neue Klangwege sich eröffnen, ein Musikfluss einfach anhält. Solche Momente können in einer besonderen Harmonie, einer auffälligen melodischen Wendung, einem erregenden Rhythmus, einem plötzlichen dynamischen Ausbruch, im Wechsel eines Ausdruckscharakters gegeben sein. Immer aber eröffnen sie eine Perspektive aufs Werkganze.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Notenblatt (ich nenne es Frontispiz), auf dem die ›sternsekundliche‹ Notengruppe wie von einem Spotlight erhellt ist – das Blatt ist als Ganzes leicht schattiert. Beispielsweise findet sich im Abschnitt zu Johannes Brahms eine Stelle aus dessen Zweiter Sinfonie. Dargestellt ist der Eintritt der Reprise im ersten Satz. Vom Spotlight belichtet erscheint die Stimme der 1. Posaune, die ein viertöniges Motiv vom Anfang der Sinfonie in starker Überdehnung zu spielen hat. Dieses Motiv markiert den eigentlichen Beginn der Reprise, da es als Kopf des Doppelthemas, das den Hauptsatz der Exposition eröffnet hatte, wiederkehrt. Kaum einem Orchester gelingt es indessen, diese »Sternsekunde« hörbar zu machen, es sei denn, die Töne d-cis-d-a würden durch die Art der Ausführung ähnlich hervorgehoben, wie dies der Scheinwerfer auf unserem Notenblatt tut.
Da eine »Sternsekunde« ihren speziellen Status nur offenbaren kann, wenn sie im Kontext des übrigen Klanggeschehens analysiert wird, müssen ihre besonderen Merkmale zu Form, Charakter und Inhalt einer bestimmten Komposition in Beziehung gesetzt werden. Zum Beispiel betrachte ich den ersten gesungenen Ton aus Franz Schuberts »Winterreise«, das f auf »Fremd«, als eine »Sternsekunde«. Der Ton befindet sich in auftaktiger Position, ist dabei aber als Hochton hervorgehoben und als inhaltsschweres Wort gewichtet. In der Folge durchziehen betonte Auftakte das ganze Lied. So wird das Gefühlsmoment der Fremdheit, das den unglücklich Liebenden, das »Ich« des Gedichts, bestimmt, wachgehalten. Die Zeilen »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus« legen sich vom ersten Ton des ersten Lieds an wie ein Signum der Schwermut über den gesamten Zyklus »Winterreise«. Ausführliche Informationen erhalten Sie unter www.editionargus.de.