Täuschung
Odilo Weber
„Die Bilder kamen auf ihn zu: er sah das untergehende Abendlicht von Bogota und das ununterbrochene, millionenfach von Lichtern erleuchtete Chongping. Er atmete den Gestank im Ganges treibender Leichen und den durch Autoabgase sich verdichtenden Nebel von Islamabad. Er spürte das Messer an seiner Kehle in Detroit und den Sturz aus drei Metern Höhe in Buenos Aires. Er schnappte nach Luft, wie ein an Land geworfener Fisch. Für einen Augenblick schien sein Körper in Flammen aufzugehen, um dann wie die gefrorene Oberfläche des Baikalsees im Winter zu vereisen. Unter der Schädeldecke ein Flirren und Gesäusel. Die Erschütterungen nahmen zu, bis zur völligen Erschöpfung. Dieses Zimmer enthüllte ihn. Häutete ihn, wie eine Schlange sich häutet. Am nächsten Morgen stand Lukas auf seinem Balkon, blickte auf diese Stadt und in ein in jede Richtung mögliches Leben.“
Odilo Weber, aufgewachsen in einem Dorf nahe der holländischen Grenze, arbeitet als Autor und bildender Künstler in Köln und Triest.