Über den Umgang mit Musik
Konservative Verhaltenslehren im Widerstand gegen den kulturellen Wandel 1900-1945
Jörg Fischer
Die Selbstverständlichkeit, mit der heutzutage „alte Musik“ praktiziert wird, lässt kaum erahnen, dass die Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus dem öffentlichen Musikleben nahezu verschwunden war. Die Wiederbelebung dieser Musik und vor allem ihres originalen Klangbildes (heute als „historisch informiert“ bezeichnet) setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein.
In Deutschland hatte die Alte-Musik-Bewegung wesentliche Impulse aus der bürgerlichen Jugendbewegung („Wandervogel“) vor 1914 erhalten, was nach dem traumatischen Kriegsausgang zur Entwicklung der „musikali -sch -en Er -neu -er -ungs -be -wegungen“ und einer gezielten Ideologisierung des Ästhetischen führte: In der Jugendmusikbewegung, der Orgelbewegung und in der Kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung sollte Musik primär keinen ästhetischen „Genuss“ bieten, sondern ethisch-pädagogische Werte vermitteln und als solche zur „Gemeinschaftsbildung“ (Volksgemeinschaft, Gemeinde) beitragen. Diese entschieden kunstfeindliche Musikauffassung exekutierte ein ideologisches Programm, welches den Umgang mit Musik restriktiv reglementierte und damit die Funktion einer ästhetischen Verhaltenslehre erfüllte. Unter dem Aspekt der Verhaltenslehren standen die musikalischen Erneuerungsbewegungen wiederum in der Tradition eines ethischen Diskurses, dessen Politisierung schließlich die ungehinderte Entfaltung der Erneuerungsbestrebungen im ideologisch gelenkten Musikleben des Dritten Reiches begünstigte.