Autoren Biografie
»Philosoph, * 16.1.1838 Marienberg bei Boppard, † 17.3.1917 Zürich. (katholisch, dann konfessionslos)
Brentano studierte nach Absolvierung des Gymnasiums zu Aschaffenburg zuerst am dortigen Lyzeum, dann (1856–60) in München, Würzburg, Berlin und Münster Philosophie; doch hörte er auch mathematische, geschichtliche und theologische Vorlesungen. In der Theologie sah er – in orthodoxer katholischer Kirchlichkeit erzogen – damals sein Lebensziel. Der Einfluß F. A. Trendelenburgs bewirkte, daß Brentano seine wissenschaftliche Laufbahn als Aristoteles-Forscher begann. Auf Grund seiner ersten Veröffentlichung ›Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles‹ wurde er 1862 in Tübingen in absentia zum Dr. phil. promoviert. Nach weiteren theologischen Studien im Grazer Dominikaner-Kloster (wo er sich mit H. Denifle befreundete), in München (wo er auch I. v. Döllinger kennen lernte) und in Würzburg empfing er dort (1864) die ersten Weihen. Doch blieb ihm die Philosophie nach wie vor die alleinige Führerin zur Wahrheit und zur Rechtfertigung seines religiösen Bekenntnisses.
Mit seinem zweiten Buche über ›Die Psychologie des Aristoteles‹ habilitierte sich Brentano 1866 in Würzburg. Seine Lehrerfolge übertrafen alle Erwartungen. Sie begannen bereits bei der Verteidigung seiner 25 Habilitations-Thesen, die ihn – ebenso wie seine Probevorlesung über Schelling – als Kämpfer gegen jede Art von Unwissenschaftlichkeit in der Philosophie zeigten.
In den nächsten Jahren machte die Vorbereitung und die schließliche Verkündigung des Unfehlbarkeits-Dogmas für Brentano seine latent schon vorher bestehende Glaubenskrise akut.
1872 erhielt er eine außerordentliche Professur in Würzburg; aber schon im nächsten Jahre legte er sie nieder; denn er hatte inzwischen seinen Entschluß, aus der Kirche auszutreten, verwirklicht. Zu einem Verächter der Kirche ist er gleichwohl niemals geworden; er hat ihre großen kulturellen Leistungen immer anerkannt.
1874 erschien Brentanos berühmtestes Werk ›Psychologie vom empirischen Standpunkt‹. Im gleichen Jahre berief ihn der liberale Minister K. v. Stremayr an die Universität Wien als Ordinarius. Sechs Jahre lehrte er dort unangefochten, bis dem Konfessionslosen seine klerikale Vergangenheit zum Verhängnis wurde. Die Kompliziertheit der österreichischen Gesetzgebung bot nämlich seinen reaktionären Gegnern eine Handhabe, seine beabsichtigte Eheschließung in Österreich unmöglich zu machen. Brentano ließ sich nun in Leipzig trauen; aber mit dem Staatenwechsel verlor er auch seine Professur. Da er aber den ihm lieb gewordenen Wirkungskreis nicht verlieren wollte, habilitierte er sich noch einmal in Wien und blieb dort bis 1895. Er fand schließlich in Florenz einen neuen Wohnsitz; doch brachte er den Sommer regelmäßig in seinem Landhaus in Schönbühel bei Melk zu. 1915 vertrieben ihn die Kriegsereignisse nach Zürich, wo den inzwischen Erblindeten der Tod ereilte.
Brentano hat infolge seiner großen Strenge gegen sich selbst nur wenig veröffentlicht, aber gleichwohl die Philosophie unserer Zeit ganz außerordentlich beeinflußt durch seine zahlreichen Schüler, u.a. C. Stumpf, A. Marty, A. v. Meinong, A. Höfler, Ch. v. Ehrenfels, F. Hillebrand, E. Utitz, H. Bergmann, K. Twardowski (der Lehrer von Jan Lukasiewicz, dem Begründer der polnischen Logikerschule) und T. G. Masaryk (der erste tschechische Staatspräsident). Auch Männer von so verschiedener Geistesrichtung wie Brentanos Neffe Graf Hertling und der Modernistenführer H. Schell haben von Brentano Anregungen empfangen. Am treuesten hielten A. Marty und mehr noch dessen und Brentanos Schüler A. Kastil und O. Kraus an der Lehre des Meisters fest; am weitesten entfernte sich E. Husserl von ihr, indem er Kant und dem deutschen Idealismus beträchtliche Zugeständnisse machte – Richtungen, deren entschiedenste Bekämpfung sich Brentano fast zur Lebensaufgabe gemacht hatte.
In seiner Wiener Abschiedsvorlesung über ›Die vier Phasen der Philosophie‹ (1895) hat Brentano das mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht: Die Philosophie zeigt nicht den stetigen Fortschritt der anderen Wissenschaften, sondern – ähnlich wie Kunst und Dichtung – ein wechselndes Auf und Ab der Entwicklung: einer aufsteigenden Phase folgen drei Phasen des Abstiegs; der nach Brentano schon mit Kant einsetzende deutsche Idealismus gehört der vierten Phase an. Brentano verkennt durchaus nicht den Wert und die Größe sowie die Fülle von Anregungen dieser Philosophie; er bestreitet nur, daß diese Anregungen mit der Sicherheit logisch-wissenschaftlicher Strenge zur Wahrheit führen können: zu der Wahrheit, die für alle Wesen nur eine ist. Brentano ist der entschiedenste Gegner jedes Relativismus und Psychologismus. Damit verträgt es sich durchaus, daß nach ihm die ›deskriptive‹ oder ›Phänomenale Psychsologie‹ (die er früher auch ›Phänomenologie‹ genannt hat) die philosophische Grundwissenschaft ist; denn sie ist die exakte Beschreibung u.a. auch derjenigen Tatsachen, die als logisches Denken und Erkennen, als ethisches Wollen und als ästhetisches Wohlgefallen die Grundlagen für das Verständnis wichtiger philosophischer Disziplinen abgeben. Das alles sind offenbar Bewußtseins-Tatsachen oder ›psychische Phänomene‹ (wie sie Brentano mißverständlich nannte). Sogar für die Metaphysik glaubte er eine ähnliche psychologische Fundierung aufzeigen zu können.
Um das Wesen der psychischen Phänomene herauszuarbeiten, verwendete Brentano die sog. ›Intentionalität‹, d.h. das Gerichtetsein des Bewußtseins auf etwas. Dieses ›Etwas‹ ist nicht (wie Brentano früher im Anschluß an die Scholastik annahm) durch intentionale (mentale) Inexistenz gekennzeichnet, sondern von vornherein als transzendent gegeben – was nicht heißt, daß es auch transzendent existiert. Die Beziehung der Intentionalität hat keine Analogie in der äußeren Welt und unterscheidet daher die ›psychischen Phänomene‹ (heute meist ›Akte‹ genannt) von den ›physischen‹. Wird im psychischen Akt des Wahrnehmens etwas Physisches (z. B. der Mond) wahrgenommen, so ist die Tatsache des Wahrnehmens selbst, d.h. das Urteil, daß ich etwas wahrnehme, unmittelbar evident, d.h. als gewiß einleuchtend, so daß jeder Zweifel daran absurd wäre (›Evidenz der inneren Wahrnehmung‹). Dagegen gibt es keine Garantie, ob das wahrgenommene physische Gebilde tatsächlich ›existiert‹ (›Mangel der äußeren Evidenz‹). Jeder psychische Akt intendiert also zwei Objekte: ein ›primäres‹ (das jeweils Gesehene, Gedachte usw.) und ein ›sekundäres‹ (mein Sehen, Denken usw. dieses primären Objektes). Nur die unmittelbar gegenwärtige innere Wahrnehmung ist evident, nicht aber die Selbst-Beobachtung: denn Beobachtung verlangt Aufmerksamkeit und diese zerstört das jeweilige Akt-Erlebnis. Das Seelenleben vollzieht sich ausschließlich in Bewußtseins-Erlebnissen; das sog. ‹Unbewußte‹ lehnte Brentano ab. Die Erlebnisse zerfallen in drei Klassen: Vorstellen (wovon Wahrnehmen als Spezialfall gilt), Urteilen und Gemütsbewegungen. Das Urteilen ist nicht auf Vorstellungsverknüpfungen u. dgl. zurückzuführen; es besteht (irreduzibel) im ›als wahr Anerkennen‹ und ›als falsch Verwerfen‹.
Das führt zum Wahrheitsproblem. Hier hielt Brentano lange Zeit an der alten Adäquations-Theorie fest, gab sie zuletzt aber auf mit der Begründung, daß ich – um mein Denken mit einem Ding vergleichen zu können – schon vorher das Ding kennen müsse. Auch fehlt offenbar ein reales Korrelat bei vielen Urteilen, z.B. den negativen – es sei denn, daß man das ›Nichtsein‹ des Negierten (etwa das ›Nichtsein eines Zentauren‹) als ein solches Korrelat gelten ließe. Letzteres hat Brentano selbst anfänglich geglaubt und das so postulierte Korrelat ›Urteils-Inhalt‹ genannt (C. Stumpf ›Sachverhalt‹, A. v. Meinong ›Objektiv‹). Aber worin sollte ein solches Nichtsein bestehen? Deshalb entschloß sich Brentano, es gänzlich zu streichen. Damit wurde er zu überraschenden Konsequenzen geführt; denn was vom ›Nichtsein‹ gilt, muß ebenso auch vom ›Sein‹ gelten, ja von allen abstrakten Begriffen (›entia rationis‹). Alles das sind bloße ›Synsemantika‹, mitbedeutende Ausdrücke, die für sich allein keinen Sinn haben, sondern einen Sinn erst im sprachlichen Zusammenhang erhalten. An sich gibt es nur ›Dinge‹ (›Reismus‹: der allgemeinste Begriff Ding = res = Reales überhaupt umfaßt bei Brentano auch die seelischgeistige Wirklichkeit). So bleibt zur Definition der Wahrheit nur die Evidenz: wahr ist jedes evidente Urteil, aber auch jedes nichtevidente (›blinde‹) Urteil, das mit einem evidenten inhaltlich übereinstimmt. Neben der ›assertorischen‹ Evidenz der inneren Wahrnehmung besteht noch die ›apodiktische‹ Evidenz, die in der logischen Deduktion und in allen analytischen Urteilen vorausgesetzt wird und in der das einzige ›Apriori‹ für Brentano steckt; apriorische Anschauungen und Begriffe dagegen werden von ihm verworfen.
Die Logik Brentanos ist eine Logik der Evidenz. Sie geht von dem Gedanken aus, daß alle Urteile Existential-Urteile sind; z.B. ›diese Blume ist blau‹ heißt: ›Es ist, es gibt diese blaue Blume‹, und das wiederum besagt: ›Diese blaue Blume wird mit Recht anerkannt‹. Die Durchführung hat Brentano zu einer|Umgestaltung der gesamten bisherigen Logik geführt mit wichtigen, auch von anderer Seite anerkannten Ergebnissen, so z.B. dem Nachweis der Ungültigkeit von vier syllogistischen Modi.
Die Ethik erscheint bei Brentano sozusagen als Paralleldisziplin der Logik. Auch in der Ethik war Brentano Gegner des Relativismus und suchte ihn in ähnlicher Weise zu überwinden wie in der Logik: Analog dem Gegensatz von Anerkennen und Verwerfen bei den logischen Urteilen gibt es in der Ethik den Gegensatz von Lieben und Hassen, Gefallen und Mißfallen, Vorziehen und Zurückstellen. Und auch hier besteht ein durch unser unmittelbares Erleben als richtig charakterisiertes Werten: wer sich entgegengesetzt entscheidet, zieht ›falsch‹ vor. Das mit Recht Vorzuziehende nennen wir ethisch wertvoll oder ein Gut, das mit Recht Mißfallende ein Übel. Mit Erörterungen dieser Art wurde Brentano der Vorläufer der sog. ›materialen Wertethik‹. Doch ist seine Ethik streng deterministisch; denn allein dadurch ist sie, wie er überzeugend darlegt, eine echte Ethik. Ethik fordert ja Freiheit und Verantwortlichkeit; eine indeterministische Ethik würde aber die menschlichen Entscheidungen dem Zufall ausliefern und wäre somit in Wahrheit eine Lehre von der Unfreiheit des Willens.
Brentanos Ethik sprach sich auch in seiner politischen Überzeugung aus; er war stets ein Gegner jeder Art von Nationalismus und Militarismus.
Nur in Schlagworten seien noch andere wichtige Leistungen Brentanos angedeutet: seine Lehre vom Kontinuum, sein Nachweis der Unmöglichkeit des aktuell Unendlichen, seine Arbeiten zur Sinnespsychologie, seine Beiträge zur Ästhetik, und nicht zuletzt das Höchste für ihn: seine theistische Metaphysik.
Auch auf die schöngeistige Seite seines Wesens, die er aber im Interesse der überragenden Wichtigkeit seiner wissenschaftlichen Ziele bewußt unterdrückte, sei noch hingewiesen; wir haben ihr manches gehaltvolle Gedicht und das geistreiche Rätselbuch ›Aenigmatias‹ zu verdanken.«
Finke, Paul F., in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 593–595