Autoren Biografie
Lederer, Emil:
»Soziologe, Nationalökonom, * 22.7.1882 Pilsen, † 29.5.1939 New York. (israelitisch, seit 1907 lutherisch)
Nach dem Besuch des Deutschen Staatsgymnasiums in Pilsen (Abitur 1901) beginnt L. das Studium der Jurisprudenz und der Nationalökonomie an der Univ. Wien. Seine wichtigsten Lehrer sind dort E. v. Philippovich, E. v. Böhm-Bawerk und F. v. Wieser. Im Sommersemester 1903 studiert er in Berlin (G. v. Schmoller). 1905 wird er in Wien zum Dr. iur. promoviert, 1906/07 ist er Advokaturskandidat an Gerichten in Wien, Pilsen und Brüx, 1907–10 Sekretär des Niederösterr. Gewerbe-Vereins in Wien. 1910 übersiedelt er nach Heidelberg. Er wird Redaktionssekretär des ›Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‹, in dessen Schriftleitung er 1918 eintritt und das er 1921–33 gemeinsam mit Schumpeter und Alfred Weber herausgibt. Außerdem ist er Autor der ›Chronik der sozialen Bewegung‹ (seit 1920 ›Kritische Übersicht der sozialen Bewegung‹). 1911 wird er bei L. Brentano in München mit der Arbeit ›Die Pensionsversicherung der Privatangestellten‹ zum Dr. rer. pol. promoviert. 1912 habilitiert er sich in Heidelberg (›Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung‹), wird dort 1918 ao. Professor für Nationalökonomie und 1922 o. Professor. L. ist 1919 Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung in der österr. Staatskommission zur Sozialisierung und 1920/21 Mitglied der Sozialisierungskommission in Deutschland. 1923–25 wirkt er als Austauschprofessor an der Kaiserl. Univ. Tokio und unternimmt Reisen nach China. 1931–33 ist er als Nachfolger Sombarts o. Professor der Staatswissenschaften und Direktor des staatswissenschaftlich-statistischen Seminars an der Univ. Berlin. Er reist nach Skandinavien (1930) und in die Sowjetunion (1932). 1933 emigriert er über Paris und London nach New York, wo er erster Dekan der Graduate Faculty of Political and Social Science (›University in Exile‹) der New School for Social Research wird.
Die Schwerpunkte des wissenschaftlichen Werkes von L. liegen bei seinen volkswirtschaftlich-theoretischen Schriften, die stark von der Wiener Grenznutzenschule und vom Austromarxismus geprägt sind, bei seiner Analyse der Klassenstrukturen in ihren Veränderungen, wobei sein besonderes Augenmerk der Soziologie der Angestellten gilt, bei seiner politischen Soziologie des Parteiensystems und des Parlamentarismus und seinen Analysen des Nationalsozialismus, vor allem von dessen Voraussetzungen und Folgen in der deutschen Klassenstruktur. In Opposition zu M. Weber vertrat L. auch als Wissenschaftler die Wertordnung eines demokratischen Sozialismus. Er wurde zum geistigen und organisatorischen Führer der ›Universität im Exil‹, als einer zentralen Institution der emigrierten deutschen Sozialwissenschaftler.«
Käsler, Dirk, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 40–41
Diehl, Karl:
»Volkswirt, * 27.3.1864 Frankfurt/Main, † 12.5.1943 Freiburg (Breisgau) (evangelisch)
D. studierte in Berlin, Jena und Halle, wo er 1888 promovierte und sich 1890 als Privatdozent habilitierte. Daselbst 1893 zum außerordentlichen Professor ernannt, erhielt er 1898 eine Berufung als ordentlicher Professor nach Rostock, 1899 nach Königsberg und 1908 nach Freiburg (Breisgau). Neben Ausübung seines Lehramts entfaltete er eine staunenswerte schriftstellerische Tätigkeit von bedeutendem Umfang. Schon in seiner Jugend mit den Theorien des französischen Sozialisten Proudhon beschäftigt, hat er sich zeitlebens mit den Problemen des Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus befaßt und galt auf diesem Gebiet im bürgerlichen Lager neben Werner Sombart als bedeutendste Autorität. Wie Franz Oppenheimer, Götz Briefs und Alfred Amonn hat sich auch D. mit dem Ricardoproblem befaßt und einen umfangreichen Kommentar zu Ricardos ›Grundgesetzen der Volkswirtschaft und Besteuerung‹ (1905, 1921/22) geschrieben, worin er in Ricardo keinen Epigonen von Adam Smith, sondern einen völlig originalen Denker erblickt, der erst eine klare Theorie des Wertes, Preises, Zinses, Lohnes, Profits und der Rente entworfen und die Bewegungstendenzen und gegenseitige Bedingtheit von Arbeitslohn, Profit und Rente dargelegt habe. Während des ersten Weltkrieges den wirtschaftlichen Erfordernissen der Zeit aufgeschlossen, verfaßte er nach dessen Ende sein umfassendes System der Theoretischen Nationalökonomie, worin er die Summe seines reichen Gelehrtenlebens niederlegte. Mit der jüngeren historischen Schule bekannte sich D. zu einer empirisch-realistischen Methode; er war ein Gegner der reinen oder exakten Nationalökonomie, welche die Wirtschaftsvorgänge auf allgemein gültige absolute Gesetze gründet. Die von D. vertretene voraussetzungslose ›sozialrechtliche‹ Theorie, die sich auf empirische und konkrete Tatsachen stützt, geht davon aus, daß alle wirtschaftlichen Erscheinungen aufs engste mit der jeweiligen Wirtschaftsverfassung verknüpft sind. Da die Wirtschaftsverfassungen und Wirtschaftsformen fortwährenden Wandlungen unterliegen, die ihren Ausdruck in den veränderten rechtlichen Grundlagen der Wirtschaftsordnung finden, können nach D. auch keine allgemeinen, dauernd gültigen Wirtschaftsgesetze aufgestellt werden. Den ihm von seinen eigenen Schülern entgegengebrachten Vorwurf, daß dies eine Preisgabe der Theorie bedeute, nahm D. gern in Kauf, mit der Bemerkung, daß die dabei gewonnenen Resultate zu richtigeren Erkenntnissen führten als die so oft geübte abstrakt-deduktive Methode.«
Baxa, Jakob, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 644 f.
Somary, Felix:
»Bankier, Wirtschaftswissenschaftler, * 20. 11. 1881 Wien, † 11. 7. 1956 Zürich. (katholisch)
S. wuchs in Wien als Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts auf. Nach dem Abitur am Schottengymnasium in Wien studierte S. 1899–1904 Wirtschaftswissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften an der Univ. Wien. 1904 beim Wirtschaftswissenschaftler Karl Menger (1840–1921), dem Begründer der österr. Grenznutzenlehre, promoviert, war S. 1904–06 Assistent Eugen v. Philippovichs (1858–1917), 1906–09 Finanzsekretär der Anglo-Austrian Bank in Wien und ging 1909 an die Hochschule für Staatswissenschaftliche Fortbildung nach Berlin. S. beschäftigte sich intensiv mit der Geldmarkt- und Bankenpolitik. Im Aug. 1914 wurde S., ungeachtet seiner österr. Staatsbürgerschaft, zum Stabschef der Bankenabteilung im besetzten Belgien ernannt, schied aber 1915 wegen unüberbrückbarer sachlicher und persönlicher Gegensätze mit seinem Vorgesetzten v. Lumm aus. S. unterzeichnete 1916 Max Webers Denkschrift gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg und trat in Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Kreis ein, Im Nov./Dez. 1918 vertrat er die Republik Österreich bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten in Bern. 1918 und 1919 war S. Mitglied der Hoover-Kommission, die für die Nahrungsmittelhilfe an Österreich verantwortlich war.
1919 zunächst leitender Mitarbeiter, dann Partner des Züricher Privatbankhauses ›Blankart & Cie.‹, war S. auch als Gastprofessor 1928 an der Univ. Heidelberg tätig. 1932 nahm er die Schweizer Staatsbürgerschaft an. 1939 und 1940 schloß er im Auftrag des Schweizer Bundesrats mit den USA Lieferverträge über Nahrungsmittel und Rohstoffe ab, die die Versorgung der Schweiz während des 2. Weltkriegs sicherten; 1940–44 vertrat er im Auftrag des Schweizer Bundesrats die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in Washington und beriet das amerik. Verteidigungsministerium in Währungsfragen. S. kehrte 1945 in die Schweiz zurück und nahm seine Tätigkeit als Privatbankier wieder auf. Das Bankhaus Blankart & Cie. spielte eine bedeutende Rolle bei der Finanzierung der schweizer. Elektrizitätswirtschaft und in der Vermögensverwaltung.
S. war ein entschiedener Anhänger des Freihandels und der Goldwährung mit festen Währungsparitäten, er lehnte im Sinne einer freien Marktwirtschaft und freien Preisbildung Kartelle und eine anti-deflationäre Konjunkturpolitik grundsätzlich ab. 1920 sagte S. den völligen Funktionsverlust des Geldes durch eine Hyperinflation in Deutschland voraus. Wiederholt warnte er in Vorträgen an Universitäten (1926), im Verein für Socialpolitik (1928) und in Buchveröffentlichungen vor den Gefahren einer zu hohen kurzfristigen Verschuldung Deutschlands, einer kreditfinanzierten Überhitzung des Kapitalmarkts und einer Überinvestition der Wirtschaft.«
Kopper, Christopher, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 560