Vampir und Engel
Zur Genese und Funktion der Fräulein-Figur im Werk Ödön von Horváths
Erwin Gärtner, Nicole Streitler
Ödön von Horváth ist ein moderner Klassiker. Für seine scharfen Gesellschaftsanalysen ist er ebenso bekannt wie für die schlichte Eindringlichkeit seiner Sätze. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“, lautet das Motto der „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Und in einem jener irren Sätze, von denen sich Peter Handke begeistert zeigte, heißt es: „Da fliegen überall so schwarze Würmer herum.“ Ein Blick in den Nachlaßbestand des Autors am Österreichischen Literaturarchiv (ein Teil davon als Dauerleihgabe der Wiener Stadt- und Landesbibliothek) läßt an seinem Werk ganz neue Seiten erkennen: Bis heute findet man in den Materialien unveröffentlichte Texte, und auch die präzise Spracharbeit hellt sich am Entstehungsprozeß der Werke unmittelbar auf. Woher, so lautet eine der Fragen, hat Horváth das Material seiner großen Volksstücke genommen? Populäre Stoffe der Weimarer Republik, die eher im Kino oder am Oktoberfest zu Hause waren als in der hohen Literatur, boten dafür in vielen Fällen einen Ansatzpunkt. Darunter die Vorstellung des sogenannten „Mädchenhandels“ – ein Thema, von dem man sich zu Beginn der 1930er Jahre fasziniert zeigte und das der Autor in veränderter Form auf die Bühne brachte. Die Wiener Horváth-Tage 2005 tragen den Titel „Ein Fräulein wird verkauft“ und sprechen damit eines jener weitgehend unbekannten, frühen Dramenfragmente an. In Aufführungen, Vorträgen, Lesungen und Gesprächen zwischen Literaturwissenschaftern, Theaterleuten und Autoren wird die lange Entwicklungsgeschichte der Horváthschen Fräulein-Figur aufgezeigt und damit ein neuer Zugang gerade zu den berühmtesten Bühnenstücken des Autors geschaffen.