Vergemeinschaftung, Modernisierung, Verausgabung
Nationalökonomie und Erzählliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Matthias Agethen
Das Ökonomische spielt für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. In Deutschland entwickelt sich die Wirtschaftswissenschaft ausdrücklich als Volkswirtschaftslehre. Ihr Narrativ von der nationalökonomischen Vereinigung zu einer emphatischen Gemeinschaft der Werte ist mit den fiktionalen Erzählungen der Zeit, d. h. also mit der Literaturgeschichte, eng verwoben. Die Zeit- und Gesellschaftsromane des Realismus und des Naturalismus sind stark von ökonomischen Themen und Figuren geprägt. Einerseits affirmieren und idealisieren sie die bürgerliche Gesellschaft und ihr ökonomisches Weltbild, andererseits problematisieren sie dieses auch und stellen seine Widersprüche und Ambivalenzen dar. Die Arbeit rekonstruiert die gemeinsame Entwicklungsgeschichte von Erzählliteratur und Nationalökonomie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus ihrem Verhältnis gehen besondere diskurs- und literaturgeschichtliche Bedingungen hervor, die in den Konstituierungsprozess der Moderne um 1900 eingehen. In 19th century Germany Nationalökonomie evolves as a discipline which tells the founding history of bourgeois society as a narration of an emphatic community of values (Wertegemeinschaft). The literature of Bürgerlicher Realismus transforms this narration and other concepts of the Volkswirtschaftslehre into a range of fictional representations. The German Zeit- and Gesellschaftsroman (social novel) popularizes, affirms or criticizes the knowledge and the conception of world (Weltbild) of the Nationalökonomie and becomes an important medium of cultural meaning and social integration. The correlations of Nationalökonomie and narrative literature initiate developments of literary history that are an important precondition in the process and formation of modernity in 1900.