Wege des Sprachgenius
Der Prozess der poetischen Gestaltung
Wilfried Hammacher
Was heißt «Sprachgestaltung» in ihrer über einhundertjährigen Tradition? Sicher nicht das Tradieren vorausgegangener Ergebnisse, bloße Nachahmung dessen, was zum Beispiel nachklingt von Marie Steiners einzigartiger Inszenie- rung und Uraufführung von Goethes Faust I/II im Jahre 1938. Als Bühnenhelfer durften Sprachgestalter/innen meiner Generation das Wunder dieser Neu- schöpfung 1949 noch miterleben. Es war dies die zweite Wiederaufnahme der Faust-Inszenierung Marie Steiners unmittelbar nach ihrem Tod am 27. Dezem- ber 1948. Man durfte miterleben, wie ihr Genius für die Darstellenden weiter fordernd anwesend war. Dieses Erlebnis blieb für Wilfried Hammacher rich- tungsweisend, als er 2002 bis 2004 die Wiederaufnahme von Faust I/II regielich übernehmen durfte: selbstverständlich zu einer anderen Zeit, mit anderen Darstellern, in entsprechend anderer Verwirklichung.
Wie erarbeitete Marie Steiner eine Dichtung? Zuerst machte sie sich mit dem gedanklichen, fantasiegeborenen Inhalt bis in alle Einzelheiten vertraut, bis in jede Nuancierung des Gefühls, der Willensdynamik. Darüber befragt, wie sie denn die genaue Nuancierung des Erlebens so sicher in die Sprachgestaltung bringt, sagte sie: «Ganz einfach: Ich habe die Gebärde.»
Sie vollzog, was Rudolf Steiner in der Meditation für den Schauspieler zusam- mengefasst hat: «Im Sprechen ist die Auferstehung des in der Gebärde ver- schwundenen Menschen.» Den Weg vom Erleben zur Gebärde zur Sprache geht die Meditation rückwärts. Marie Steiner beherrschte diesen Weg der Gestal- tung mit dem Genie, das ihr eigen war. Alle Inszenierungen hat sie durch Vor- sprechen entstehen lassen. Was so einmalig entstand, konnte eine Zeit lang durch die Darsteller/innen tradiert werden. Eine lebenskräftige, wirkliche Tra- dition kann aber nur im individuellen Vollzug des Dreischritts der poetischen Gestaltung erarbeitet werden, der die Wege des Sprachgenius nachvollzieht – nicht anders als die Wege individuellem Streben sich erschließen, in die Welt des Geistes einzudringen, durch die Wegweisung Rudolf Steiners in seiner Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Um diesen Wegen Raum zu schaffen, ließ er das erste und das zweite Goetheanum bauen, das Haus des Wortes.