Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur
Die Urteilsabsprachen im Strafprozess als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung
Bernd Schünemann
An die Stelle einer auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit gestützten und in diesem Sinne die materielle Gerechtigkeit des Strafgesetzes verwirklichenden Urteilsfindung ist in Deutschland zunächst in aller Heimlichkeit eine Aushandlung des Verfahrensergebnisses in Strafverfahren getreten. Der Autor der vorliegenden Streitschrift, Professor Dr. Bernd Schünemann, Direktor des Instituts für die gesamten Strafrechtswissenschaften, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat bereits Ende der 70er Jahre durch eine Repräsentativ-Umfrage und in seinem Gutachten für den 58. Deutschen Juristentag 1990 sowie späteren Abhandlungen die Notwendigkeit einer Gesamtreform des deutschen Strafverfahrens angemahnt, durch die (allenfalls) die Praxis der Urteilsabsprachen in einem Rechtsstaat akzeptabel gemacht werden könnte. Der Siegeszug des rein pragmatischen Denkens, der soeben in einer Entscheidung des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofes seinen Abschluß gefunden hat, markiert die Preisgabe aller rechtsstaatlichen Errungenschaften des im 19. Jahrhunderts entwickelten deutschen Strafverfahrens und führt zu einem verfahrensökonomischen Modell, das durch das Fehlen jeglicher gesetzlicher Kautelen und durch die Teilnahme des erkennenden Gerichts an der Aushandlung des Urteilsergebnisses sowohl in der Perspektive des amerikanischen plea bargaining als auch im Vergleich mit den Regelungsbemühungen anderer Rechtsordnungen in Europa und der Dritten Welt zu einem für die deutsche Rechtskultur vernichtenden Urteil zwingt.