Wie öffentliche Moral gemacht wird
Die Einführung des § 175 in das Strafgesetzbuch 1871
Jens Dobler, Benno Gammerl
Mit der Einführung des Code pénal in Frankreich 1810 und seiner Ausbreitung in Folge der napoleonischen Kriege setzte eine weitgehende Liberalisierung des Homosexualitätsstrafrechts ein. In Bayern waren homosexuelle Akte seit ab 1813 straffrei, in Württemberg waren sie ab 1839 nur noch Antragsdelikt, ebenso in Braunschweig ab 1840. In Hannover ab 1840 und Baden ab 1845 wurde Homosexualität nur noch im Zusammenhang mit der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses bestraft. Das Preußische Landrecht hinkte mit seinen Strafbestimmungen also deutlich hinter der europäischen und „deutschen“ Entwicklung hinterher. Dass seine Bestimmungen in ein erstes deutsches Reichsstrafgesetzbuch eingingen, war also alles andere als selbstverständlich.
Jens Dobler beschreibt die Geburtsstunde des § 175 StGB vor diesem Hintergrund nicht als einseitige Durchsetzung reaktionärer Politik, sondern als ein „Spektakel in verschiedenen Arenen“: Er skizziert die widerstreitenden Kräfte innerhalb eines komplexen Systems von Politik, Jurisprudenz, anderen Wissenschaften und „Betroffenen“, vor allem aber auch von einer Öffentlichkeit, deren schwankende Stimmung stark von brisanten, aktuellen Ereignissen geprägt wurde. Diese stark geweitete Perspektive auf ein folgenreiches Kapitel deutscher Rechtsgeschichte eröffnet neue Fragestellungen auch für die Erforschung der jeweiligen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die spätere Reformbemühungen zum § 175 lange scheitern ließen.