Wilhelm von Humboldts Theorie der Bildung interkulturell gelesen
Eva Eirmbter-Stolbrink
Auch innerhalb gegenwärtiger Diskussionen um die Frage der Bildung wird der ›Klassiker‹ bildungstheoretischen Denkens, Wilhelm von Humboldt, immer wieder genannt. Allerdings geschieht dies vielfach im Sinne einer Abgrenzung von einem überlieferten Bildungsideal und damit als ein Appell an das durch die Bildungsherausforderungen der Gegenwart notwendig werdende Vergessen seiner Bildungsideen. Die Frage der Interkulturalität ist zugleich eine Frage der Bildung.
Wilhelm von Humboldts Werke beinhalten anthropologisch-vergleichende, bildungsphilosophische, bildungspolitische und sprachtheoretische Ansätze. Seine Gedanken sind in einer Fülle von Texten enthalten; ihre Vielfalt bildet keine Einheit im Sinne eines zusammenhängenden systematischen Ordnungsgefüges. Humboldts einheitsstiftender Gedanke ist allerdings die Frage nach dem Menschen und nach seiner Bildung. Die Mannigfaltigkeit der Welt ist mit der Tatsache und Möglichkeit der Mannigfaltigkeit der in ihr lebenden Individuen in einen Zusammenhang zu bringen. Die Vielfalt der Formen von Kultur und Gesellschaft einerseits und die zugleich vorhandenen vielfältigen Möglichkeiten der Entwicklung des Menschen sind für Humboldt im Gedanken einer zu entfaltenden Individualität enthalten. Die Individualität ist Form und Kraft des Menschen als ›höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen‹.
In Humboldts Schriften ist die Grundfrage der Interkulturalität, das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, strukturell enthalten und entfaltet. Für die interdisziplinär zu bearbeitende Aufgabe der Entwicklung einer Theorie der Interkulturalität erscheint die Lektüre von Humboldts Schriften im Zusammenhang von Interkulturalität und Bildung von daher als unabdingbare Voraussetzung und als eine wesentliche Bereicherung.