zB Zeitschrift zum Beispiel Nr. 3
Themenheft Handgreifliche Beispiele Zweite Lieferung
Michael Niehaus
Das Verhältnis zwischen Seh- und Tastsinn ist prekär. Das wird vielleicht ganz besonders in einer Zeit offenbar, in der sich das Verhältnis der Sinne durch digitale Medien umstellt, denn Hand und Finger (digitus) sind hier nicht nur symbolisch auf Benutzeroberflächen im Spiel. Aber schon die Moderne des 20. Jahrhunderts sah sich bekanntlich mit Erfahrungen konfrontiert, die in der Theorie mit dem berühmten haptisch-taktilen Schlagwort des Schocks begriffen werden: Das gilt für die massenhafte Reizüberflutung in der Großstadt ebenso, wie für die neuen Medien Fotografie und Film, die nicht mehr kontemplative, sondern grundlegend andere Wahrnehmungsweisen verlangen. So hat Walter Benjamin nicht nur eine eigentümlich taktile Qualität des Films in seiner revolverhaften Bilderfolge bemerkt, sondern am Beispiel der handlichen Kodak ‚Schnappschuss‘-Kamera auch die quasi arbeitsteilige Entkopplung von Auge und Hand reflektiert, die aus der fotografischen Praxis resultiert und zur Geste avanciert: Das Knipsen wird dabei zum Paradigma technischer Reproduzierbarkeit, eines abrupten Handgebrauchs, an dem sich auch das Schlag- und Schockartige moderner Arbeitswelt exemplifizieren lässt. Diesem und vielen weiteren handgreiflichen Beispielen geht nun die „Zweite Lieferung“ unseres Themenhefts nach, unter anderem mit Beiträgen zu Beispielen aus den Diskursen der Kulturtheorie, der Technikphilosophie sowie auch der Psychoanalyse: so etwa zu Martin Heideggers Sputnik, Paul Válerys Händen oder Jaques Lacans Borromäischem Knoten. Diese zweite knüpft also an die „Erste Lieferung“ unseres Themenhefts an, deren Beiträge sich schwerpunktmäßig mit handgreiflichen Beispielen in Texten der Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Sinnesphysiologie und Ästhetik beschäftigten. Darüber hinaus werden im vorliegenden Heft auch die Fortsetzungen der Beiträge von Rüdiger Campe (nun zu implikativ handgreiflichen Beispielen sowie damit verbundenen operativen Experimentalpraktiken bei Ernst Mach) und Thomas Bedorf (der die Geschichte des Beispiels des Händedrucks in der Phänomenologie nun von Maurice Merleau-Ponty bis Jaques Derrida weitererzählt) geliefert.