Zügellos | Im Kosmos der Vierten Gewalt
Historischer Roman
Robert Lukas Heine
Als der Lokalredakteur Lukas Heine bei den Genossenschaftsbauern am Feldrain eintrifft, um eine Reportage über den Ernteendspurt vorzubereiten, stößt er auf Männer, die gelangweilt im Schatten liegen. Eigentlich dachte er, schon von Weitem die Mähdrescher zu sehen, die in Staubwolken gehüllt ihre Runden drehen. „Du kommst zu spät“, empfängt ihn der Brigadier. „Wir sind durch! Fertig. Schau: Steht heute in der Zeitung!“ Eine ausladende Handbewegung in Richtung Feld. Fertig? Auf gut zwei Dritteln der Fläche wartet das Korn noch auf den Mähdrusch. Offenkundig ein Konflikt zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Heine schießt die Röte ins Gesicht. Stimmt, erinnert er sich. Hab ich selbst geschrieben.
Die SED-Kreisleitung fordert den öffentlichen Wettbewerb zwischen den Landwirtschaftsbetrieben. Bärbel Pankau im Rat des Kreises soll die Zahlen erfassen und an die Zeitung weitergeben. „Wir müssen hier ein bisschen vorarbeiten“, sagt sie dann augenzwinkernd. „Wenn wir nicht weiter sind als wir’s tatsächlich sind, droht die Bezirksleitung mit der Keule.“ Und so werden aus 65 Prozent abgeernteter Fläche schnell mal 80, aus 80 Prozent auch schon mal 100. Wie in diesem Falle. Zahlenakrobatik, wie sie auch Wahlvorstände beherrschen – erzählt manch einer. Der Vor-Ort-Termin war längst verabredet. „Sag deinem Parteioberindianer: Wir stehen für euren Scheiß nicht mehr zur Verfügung!“, verabschiedet sich der Brigadier wütend, lässt den Reporter am Feldrand allein zurück und weist seine Männer per Handzeichen an, mit der Ernte fortzufahren.
Seit zweieinhalb Jahren ist Heine mit Stift und Kamera für eine Tageszeitung unterwegs. Der Job inzwischen Routine. Anders als in regionalen oder überregionalen Medien, ist der Journalismus im Lokalen noch bodenständig und weitgehend vertrauenerweckend. Vermeintlich unendlich die Freiheit – zu berichten, zu argumentieren und sogar zügellos zu kritisieren. Vorausgesetzt, es spielt sich alles in den Grenzen der Staatsideologie ab. Wer deren Schranken nicht kennt, sich zu dieser Ideologie nicht bekennt, hat in diesem Job nichts verloren.
1985 spricht in Moskau plötzlich jemand von Transparenz und Offenheit. Von der Notwendigkeit, die Wirklichkeit neu und ernsthaft zu hinterfragen. In vielen ostdeutschen Köpfen keimt Hoffnung auf; beginnt im Bewusstsein ein zäher, oft auch schmerzhafter Prozess.
Dieses Buch beschreibt fiktiv in Episoden Grundzüge der Medienwirklichkeit vor und nach dem Mauerfall am Beispiel eines in diesem Milieu Handelnden. Robert Heine erlebt den radikalen Umbau des Pressesystems in den neuen Bundesländern hautnah. Bei einer Tageszeitung, aber auch als Mitbegründer einer neuen Nachwendezeitung – die jedoch nur kurz am Firmament aufleuchtet. Er setzt sich noch einmal für ein Semester in den Hörsaal einer medienwissenschaftlichen Fakultät, um das sonderbare Spiel hinter den Kulissen zu verstehen. Heine nimmt die neuen Herausforderungen offensiv an und hofft auf eine Freiheit mit ehrlichen Chancen auch für ostdeutsche Journalisten. Am Ende jedoch steht der radikale Bruch mit der sogenannten Vierten Gewalt, die innerhalb des gesellschaftlichen Systems einen eigenen, kaum zu durchdringenden Kosmos darstellt; in dem die Regeln des fairen Miteinanders und auch das traditionelle Selbstverständnis des Journalismus dem Diktat von finanzkräftigen Wirtschaftsunternehmern, selbstverliebten Medienmanagern und nach Quoten und Auflagen drängenden Gesellschaftern und Aktionären geopfert werden. Und die Erkenntnis, dass heute so vieles doch gar nicht so viel anders ist. Abgesehen von den politischen Vorzeichen. Ist Pressefreiheit – als Ganzes, insbesondere aber die innere – am Ende nur eine Illusion?