Zukunftsvorstellungen in frühen deutschsprachigen Prosaromanen
Susanne Knaeble
Zeit ist für Erzählen essentiell: Die Art und Weise, wie literarische Erzählungen funktionieren, ist ganz wesentlich davon beeinflusst, welche Zeitvorstellungen in den Texten entworfen sind. Während mittelalterliche Erzählungen nur in Ausnahmefällen eine ergebnisoffene Zukunft entwerfen, so ist die Vorstellung eines unbestimmten Zeitraumes, den es mit Plänen, Wünschen, Kalkulationen usw. zu gestalten gilt, in den frühen deutschsprachigen Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts als ein Wandel der Erzählparadigmen beschreibbar. zuokunfft oder kunfft bezeichnen allerdings auch noch im Frühneuhochdeutschen keinen zu füllenden Zeitraum, sondern vielmehr den Eintritt eines vorherbestimmten Ereignisses. Die Studie fragt daher, wie sich nicht das Wort ‚Zukunft‘, wohl aber das Phänomen ‚Zukunft‘ als narrativ bedeutsames Konzept für diesen Wandel beschreiben lässt, sowie nach der Überlagerung und Verschiebung unterschiedlicher narrativer Zukunftsentwürfe im Erzählen der frühen Prosaromane. Als eine spezifische Neuerung ist insbesondere zu beobachten, dass die Auslöser und Gründe des Handelns der Figuren dem Leser als deren gedankliche Überlegungen einsehbar gemacht werden: Tatabsichten, Pläne und Handlungsvorbereitungen rücken ins Zentrum der Darstellung und adressieren zugleich den Raum alternativer Möglichkeiten. Die Arbeit fragt daher, wie Literatur in der narrativen Verhandlung von Zukunft dem Rezipienten ein neues historisches Zeitbewusstsein zur Anschauung ausstellt und ihn überdies auf der Basis eigener Wahrnehmungsleistungen zugleich zur Reflexionen über die Zukunftsgestaltung einlädt. Die Untersuchung des Hug Schapler, der Melusine, Harliebs Alexanderroman und des Fortunatus’ stellt insbesondere die Planung der Zukunft als entscheidendes Thema des Erzählens im frühen Prosaroman heraus und bringt die Perspektivierungen von Zukunft sowie die Verhandlung von Kontingenz oder Planbarkeit des Zukünftigen auf den unterschiedlichen Erzählebenen zur Anschauung. Dergestalt lässt sich die alte Forschungsfrage nach der fehlenden ‚Handlungsanweisung‘ der frühen Prosaromane neu beantworten: Da es auf eine quasi permanente Perspektivierung der Zukunft ankommt, gibt es angesichts einer fluiden Zukunft keine eindeutigen Handlungsanweisungen mehr, nach denen sich der Protagonist (und auch der Rezipient) richten könnte. Was allenfalls als Orientierungsrichtlinie bleibt, ist die Aufforderung zur flexiblen Reaktion auf eine intrikate Umgebung und zu selbstverantworteten Entscheidungen für das eigene Leben, welche in den frühen Prosaromanen nun ins Zentrum des narrativen Interesses rücken.