Spiele genießen in der massenmedialen Welt eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Bei den Meisterschaften im Fußball, den olympischen Spielen oder den großen Tennisturnieren sind nicht nur die Sportler selbst affektiv intensiv involviert, sondern auch mitfiebernde Fans und andere Zuschauer. Dieses Involviertsein, ein Hingegebensein an eine Sache, wo es offensichtlich gar nicht so um die ernsten Dinge des Lebens geht, wird aber meist nicht als unangemessen belächelt, sondern gebilligt, ja gehört sogar zur affektiven Landschaft entsprechender Großereignisse als tragende Größe dazu. Dasselbe gilt für weite Bereiche populärer Kultur, den Besuch von Rockkonzerten oder von Kinofilmen, das Ansehen von Filmserien aber auch für die Teilnahme an Computerspielen. Angesichts des sozialen Magnetismus, der von Spielen im weitesten Sinne ausgehen kann, ihrer oft subjektiv empfundene Rolle der Vermittlung von sozial relevanten Realitäten an teilhabende Individuen, sowie der Bedeutung eines individuellen affektiven Involviertseins und Hingegebenseins stellt sich leicht die Frage, wie oberflächlich oder tief eine Verwandtschaft zwischen Phänomenen religiöser Anhängerschaft und säkularer „Fan-ship“ sein mag, worin relevante Unterschiede und Gemeinsamkeiten genau bestehen.
Die vorliegende Ausgabe des Journals für Religionsphilosophie mit dem Themenschwerpunkt "Ernste Spiele" widmet sich der Theorie des Spiels aus der Perspektive eines religionsphilosophischen Interesses. Spiele schaffen mit ihren Regeln eigene Handlungsräume und Horizonte, die den Charakter einer weltartigen Totalität gewinnen können und sehr spezielle Erlebnisqualitöten und Wahrnehmungszustände hervorrufen können. Spiele können bannen, äußerst lebendige existenzielle Zusammenhänge evozieren und besonders reine und intensive Stimmungen des Ernstes hervorrufen, wie sie im Alltag viel seltener entstehen. Solche Möglichkeiten spielerischer Formen werden auch innerhalb der Religion, etwa mittels theatraler, poetischer, musikalischer, bildnerischer oder architektonischer Elemente beansprucht. Existenzielle Tiefe und Transzendenzbezug religiöser Ausdrucksformen scheinen in hohem Maße an das ästhetische Tiefenpotential der jeweiligen Spielformen gebunden. Angesichts der lebensumgreifenden Verbindlichkeit sowie grundlegender normativer Ansprüche, die mit Religion verbunden sind, ergeben sich nun gerade in diesem Feld ausgeprägte Ambivalenzen im Umgang mit dem Spiel: Solches scheint integraler Bestandteil und durchaus spezifisch (etwa im Unterschied zu solchen Traditionen, bei denen weniger die Symbolisierung, sondern primär Meditation bzw. Übungen unmittelbarer Aufmerksamkeit die Praxis bestimmen). Zugleich stehen im Kern von Religionen spezifisch religiöse Wahrheitsansprüche und Ansprüche auf Angemessenheit, die eben nicht einen abgegrenzten spielhaften Horizont betreffen, sondern das ganze Leben oder überhaupt den normativen Horizont einer Sozialität. Es wäre nicht plausibel, den Ernst der Religion schlicht als „heiligen“ Ernst eines affektiv bannenden Spiels zu bewerten.
Wenn allerdings – wie in verschiedenen Theorien des Spiels betont wird – mit dem Spielen eine neue Welt entsteht, generiert wird und entsprechend Teilnehmende an „religiösen Spielen“ ihre Praxis als kommunikative Teilhabe an göttlicher Kreativität, der Fortführung einer göttlichen Schöpfung ansehen, wirft dies ein Licht auf die Tiefe, in der Spiele das individuelle und soziale Leben, ja überhaupt die soziale Realität bestimmen können, sowie auch auf die Härte von Konflikten, die zwischen Vertretern unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Spielformen entstehen können.
Viele der in der vorliegenden Ausgabe versammelten Beiträge thematisieren Aspekte religiöser Praxis unter Gesichtspunkten des Spiels. Andere Beiträge beschäftigen sich unter anderem mit konkreten Beispielen aus Liturgie oder Kunst oder betrachten auch die Philosophie oder selbst die Moral unter Gesichtspunkten des Spiels. In vielen der Texte sind grundlegende Ansätze zur Theorie des Spiels involviert, so dass neben den konkreten Themen auch ein Kranz von Möglichkeiten der systematischen Annäherung Spiel und Spielen zur Darstellung kommt. Dabei bildet der von Johann Huizinga bereits beschworene „heilige Ernst“ im Spiel ein gemeinsames Kernthema der meisten hier versammelten Aufsätze. Wie kommt es, dass etwas vordergründig so Unnützes, Unproduktives, Unwirkliches wie das Spiel uns dermaßen bannen und offenbar mehr als der Alltag existenzielle Gefühle wie den heiligen Ernst hervorrufen kann, der die Affekte im Spiel so sehr in die Nähe zu religiösen oder religionsintern erlebten Gefühlen stellt?
Aktualisiert: 2020-11-12
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