Die steinerne Privatplastik der 3. Zwischenzeit (21.-frühe 25. Dynastie) ist in Hinsicht auf ihre kunsthistorische Relevanz bislang noch nicht zusammenhängend untersucht worden. 2004 wurde anlässlich der Bearbeitung einer besonderen Gruppe von überwiegend spätzeitlichen Bronzefiguren durch M. Hill darauf hingewiesen: „…the stone corpus has not been carefully evaluated, and there may well be more stone royal and are certainly more stone private statues than one routinely recognizes.”
A. Leahy bemerkte 2006 bei seiner beispielhaften Besprechung einer in der frühen 22. Dynastie usurpierten Kniefigur des Neuen Reiches abschließend: „A history of Libyan Period statuary remains to be written. It is a daunting task and it is not surprising that a date c. 700 BC was chosen for the beginning of ESLP. Recent advances in our understanding of chronology and political structure have not yet had much impact on the study of sculpture in this period and can hardly do so until more of the evidence is made accessible in a way that allows full assessment, and until criteria for more precise dating are developed.”
Die vorliegende Arbeit versucht einen Beitrag zur Erforschung der libyerzeitlichen Plastik zu leisten. Sie kann nicht für sich in Anspruch nehmen alle Aspekte, die mit der künstlerischen Entwicklung im Bereich der Privatplastik dieser Periode verbunden sind, zu berücksichtigen. Es handelt sich eher um eine Zusammenstellung des vielfach bislang unpublizierten Materials, das auf einzelne Fragestellungen hin untersucht wird.
Besondere Bedeutung kommt dabei als einem ersten wichtigen Schritt der Trennung zwischen den original libyerzeitlichen Statuen und den in dieser Zeit in sekundärer Verwendung stehenden Statuen früherer Epochen zu, wodurch ein unverstellter Blick auf die Stilistik der ägyptischen Skulptur im ersten Viertel des ersten Jahrtausends v. Chr. möglich wird. Großer Wert wird auch auf die typologische Ordnung des Materials und seine fotografische bzw. zeichnerische Dokumentation gelegt, die die Überprüfbarkeit der Untersuchungsergebnisse gewährleisten sollen.
In einer bis heute zitierten Arbeit beschäftigte sich K. Bosse mit der Rundplastik der gesamten Spätzeit von der 22. bis zur 30. Dynastie typologisch und ikonographisch. Ihre Ergebnisse müssen jedoch heute, nach über 70 Jahren, vielfach als überholt gelten. In der seither vergangenen Zeit ist eine so große Anzahl von Statuen ägyptischer Statuen des von ihr untersuchten Zeitraums publiziert worden, dass an eine derart weit gefasste Arbeit wie die von K. Bosse nicht mehr gedacht werden kann. Die Libyerzeit, die Zeit der Kuschiten, der Saiten, der Perser, die Zeit der letzten einheimischen Herrscher und natürlich auch die Ptolemäer- und Römerzeit müssen wegen des reichen erhaltenen Materials gesondert untersucht werden.
Die 22. Dynastie ist als Zeit des Neuanfangs in der Herstellung von steinernen Statuen nach einer auffälligen und bisher nicht geklärten Unterbrechung zur Zeit der 21. Dynastie (zumindest in Theben) ein besonders interessantes und lohnendes Forschungsgebiet. Aus der reichen materiellen Hinterlassenschaft dieser zu Unrecht früher vernachlässigten Epoche habe ich die steinerne Privatplastik zur Bearbeitung ausgewählt. Aus diesem Bereich sind, im Gegensatz zur steinernen Königs- und Götterplastik, relativ viele Statuen erhalten, die zu einer Analyse der stilistischen Gemeinsamkeiten herausfordern.
Mit diesen Statuen, die bereits seit der Entdeckung der traditionell „Cachette“ genannten Favissa im Tempel von Karnak durch G. Legrain in größerer Zahl zum Studium zur Verfügung stehen, haben sich bisher vor allem die mehr philologisch arbeitenden Ägyptologen beschäftigt. Die Inschriften dieser Statuen enthalten wertvolle genealogische und prosopographische Informationen über die hinsichtlich der Herrscherfolge noch immer unklare Zeit der 22./23. Dynastie, in der zu bestimmten Zeiten mehrere Herrscher libyschen Ursprungs gleichzeitig von verschiedenen Residenzen aus regiert haben.
Das kunsthistorische Interesse an der steinernen Privatplastik der Libyerzeit ist dagegen mit Ausnahme der genannten Arbeit K. Bosses vergleichsweise gering gewesen.
Bekanntlich haben erst die Forschungsarbeiten B. V. Bothmers, H. De Meulenaeres und H. W. Müllers den Anstoß zu einer vertieften kunsthistorischen Auseinandersetzung mit der ägyptischen Plastik der Spätzeit gegeben. Der Schwerpunkt ihres Materials, welches in dem sogenannten Corpus of Late Egyptian Sculpture zusammengestellt wurde, liegt im Bereich der 25.–30. Dynastie sowie der Ptolemäer- und Römerzeit. Die Plastik der Libyerzeit wurde von ihnen zwar gesammelt, aber nicht in das Ausstellungsprojekt Egyptian Sculpture of The Late Period aufgenommen.
Seit dem Bekanntwerden der goldtauschierten Bronzestatue der Gottesgemahlin Karomama (G), die bereits 1829 von J.-F. Champollion in Ägypten erworben wurde, hat die Ägyptologie schon bald die hohe Bedeutung der Metallplastik dieser Zeit erkannt. Die Wertschätzung dieser Objektgruppe hat zu einer vor allem in neuerer Zeit intensivierten Forschungsarbeit geführt. Die vorliegende Arbeit widmet sich jedoch der Privatplastik aus Stein. Sie versteht sich als ägyptologisch-kunsthistorische Untersuchung der Typenvielfalt, der Ikonographie und des Stils, der in der Privatplastik der 3. Zwischenzeit in den beiden Landesteilen Ägyptens vorherrschend war. Sie versucht auf einer möglichst breiten Materialbasis ihre Charakteristika zu erfassen, zu ordnen und ihre Entwicklung bis zum Übergang in die kuschitische Periode nachzuzeichnen.
Der natürliche Beginn für eine Untersuchung des rundplastischen Schaffens zur Zeit der ersten Fremdherrschaft nach dem Ende des Neuen Reiches läge in der 21. Dynastie. In dieser Zeit, als Ägypten zum ersten Mal seit der Besiegung der Hyksos und Kuschiten in der Mitte des 17. Jahrhunderts v. Chr. wieder in getrennte politische Einflusssphären zerfiel, wurden jedoch allem Anschein nach kaum Privatstatuen aus Stein neu geschaffen. Bis heute ist es nicht gelungen, solche Statuen zweifelsfrei zu identifizieren. Offenbar wurde im privaten Bereich auch nur vereinzelt auf ältere Werke zurückgegriffen, obwohl diese in großer Zahl zur Verfügung standen. Während das Fehlen derartiger Werke aus Unterägypten aufgrund der allgemein schlechteren Quellenlage im Nildelta nicht überrascht, muss das Fehlen von originalen Statuen aus Stein in Theben zur Zeit der 21. Dynastie besonders auffallen. Vermutlich spiegelt dieser Befund einen Wandel in der kultischen Praxis der Elite wider, der nach der Machtübernahme einer libyschen Dynastie in Ägypten eingetreten ist. Auch in dieser Hinsicht muss die 21. Dynastie jedoch zu den „dark ages“ gerechnet werden.
Erst aus der 22. Dynastie steht datierbares Material zur Verfügung. Von Scheschonq I. (ca. 946/5-925/4 v. Chr.), den Manetho von Sebennytos unter dem Namen Sesonchis als den Gründer einer neuen Dynastie auflistet, obwohl er ein Neffe des Osochor, eines späteren Herrschers der 21. Dynastie war, ist bekannt, dass er für seinen Vater einen Statuenkult einrichten ließ. In die Regierungszeit Scheschonqs I. lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit das erneute Einsetzen der Produktion von Privatstatuen datieren. Auch steinerne Königsplastik lässt sich ab dieser Zeit wieder finden. Es ist jedoch nicht bekannt, ob es sich bei den wenigen Fragmenten um usurpierte oder neu hergestellte Statuen handelt.
Zur Zeit seines Nachfolgers Osorkons I. (ca. 925/ 924–ca. 890 v. Chr.) erreicht das rundplastische Schaffen in Oberägypten qualitativ bereits wieder das hohe Niveau der Tuthmosiden- und frühen Ramessidenzeit. Der quantitative Höhepunkt ist unter Osorkon II. (ca. 875–837 v. Chr.) zu verzeichnen. In der Folgezeit ist ein recht kontinuierliches plastisches Schaffen in Theben festzustellen, doch können viele dieser Statuen keiner bestimmten Regierungszeit zugeordnet werden, was mit den wechselvollen politischen Verhältnissen in Verbindung stehen dürfte.
Erst unter Osorkon III. und seinem Mitregenten Takelot III. sind wieder mehrere durch ihre Inschrift sicher datierte Statuen bekannt. Unter den kurz regierenden Nachfolgern Takelots III. endet die libysche Herrschaft in der Thebais. Die nächste Gruppe von Fremdherrschern, die napatanischen Kuschiten, brachte Theben distinkte und vielfach innovative künstlerische Ausdrucksmittel. Diese Werke stellen die natürliche Schwelle dar, die das hier untersuchte libyerzeitliche Material von den kunsthandwerklichen Erzeugnissen der Spätzeit trennt.
Bekanntlich wurde insbesondere in der 22. Dynastie mehrfach auf ältere Werke des Mittleren und Neuen Reiches zurückgegriffen, die nach einer Umarbeitung wieder kultische Aktualität erhielten. Diese usurpierten Statuen ebenfalls in den Katalog aufzunehmen, war mir wichtig, da sich auch an ihnen ein bedeutender Teil der Ikonographie der Privatstatuen der 3. ZwZt, nämlich der (sekundäre) Reliefschmuck, gut studieren lässt. Neben den Statuen aus Stein sind aus der 3. ZwZt auch Statuen aus Holz, Elfenbein, Glasfritte („glassy fayence“) und Metall bekannt. Ich habe diese für meine Arbeit gelegentlich zum Vergleich herangezogen. Da sich jedoch die Kategorien der Steinmetzkunst nicht einfach auf andere Werkverfahren übertragen lassen, konnte dies nur unter Vorbehalt geschehen. Insbesondere die Metallplastik verdient wegen ihrer hohen Qualität eine eigene Untersuchung, der jedoch in vielen Fällen erst Restaurierungen vorangehen müssen. Der Vergleich mit der zeitgenössischen steinernen Königsplastik der 22. Dynastie musste eingeschränkt bleiben, weil er sich nur auf wenige gesicherte, aussagekräftige Werke stützen kann.
Bei der Erstellung eines Bestandskataloges konnte ich auf Vorarbeiten zurückgreifen, die das Auffinden der in Frage kommenden Objekte erleichterten. In Brooklyn wurde mir gestattet, die von B. V. Bothmer und seinen Mitarbeitern gesammelten Materialen einzusehen und für meine Arbeit zu nutzen. Hinsichtlich der mit einer Inschrift erhaltenen Objekte verdankt die Arbeit viel den Untersuchungen von K. Jansen-Winkeln, der mit der Textsammlung in seiner Habilitationsschrift Text und Sprache in der 3. Zwischenzeit dankenswerterweise bereits in der Anlage eine Nutzbarkeit „auch für andere Zwecke“ berücksichtigt hat. Inzwischen sind jedoch darüber hinausgehende Textsammlungen erschienen, die mich auf weitere Statuen der 3. Zwischenzeit aufmerksam machten.
Die bekannte Rundplastik der 3. Zwischenzeit wird heute größtenteils in verschiedenen Museen Ägyptens, Europas und Nordamerikas aufbewahrt. Weitere Objekte befinden sich noch in Grabungsmagazinen oder in Privatbesitz. Die Angaben zu den Objekten meines Kataloges sind folglich von den Kriterien der Zugänglichkeit und des Erhaltes geprägt. Die Statuen, welche ich nicht selbst in Augenschein nehmen konnte, habe ich in der Überschrift des Kataloges mit * gekennzeichnet.
Die Einträge des Kataloges sind gegliedert in einen technischen Apparat, die Übersicht der formalen Charakteristika der Statuen in tabellarischer Form, Bemerkungen zur Datierung und einen Kommentar. Bei der Nennung der Statueninhaber habe ich die seit K. A. Kitchen, TIP, gebräuchliche Nummerierung mit Buchstaben angegeben. Daneben sind auch Zählungen mit Ordinalzahlen eingeführt, die ich hier übernehme, um keine weitere Verwirrung zu schaffen. CG-Nummern in Klammern bedeuten, dass die jeweilige Statue bereits eine solche besitzt, aber die entsprechenden Bände des Catalogue Général von G. Legrain /C. Kuentz bzw. B. V. Bothmer /H. De Meulenaere nicht veröffentlicht wurden.
Ich bin mir bewusst, dass die Qualität der Bilddokumentation recht unterschiedlich ist. Sofern auf den zur Verfügung stehenden Fotos das mir Wichtige nicht deutlich zu erkennen war, habe ich auch Umzeichnungen vorgenommen. Die von H. W. Müller und B. V. Bothmer entwickelten