Kurt Riemer (28.01.1909–30.11.2004)

Kurt Riemer (28.01.1909–30.11.2004) von Riemer,  Kurt, Wehner,  Günter
Der antifaschistische Widerstandskämpfer und Aktivist der ersten Stunde ab 8. Mai 1945 hat sein bewegtes Leben sehr informativ für die Nachgeborenen aufgezeichnet. Er schrieb: „den vorliegenden Bericht (der 270 Seiten umfasst) habe ich 1987 und 1988 aus den Notizen, Konzepten und anderen Vermerken, die ich nach 1945 und vor allem seit 1970 bei verschiedenen Veranstaltungen, Aussprachen, Foren und Vorträgen über den antifaschistischen Widerstandskampf und die Jahre nach 1945 benutzte oder aus Schilderungen – zum Beispiel für das Archiv der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen und Aufzeichnungen zu anderen Gelegenheiten – zusammengestellt. Meine Absicht bestand vor allem darin, aus eigenen Erlebnissen die ersten Jahre der DDR zu schildern, weil ich sie für die Darstellung unserer Geschichte für besonders wichtig halte. Daraus ergab sich natürlich, über mein Leben vor 1945 das Wichtigste aufzuzeichnen. Diese Aufzeichnungen sind also nicht entstanden, weil ich das eigene Leben für außergewöhnlich halte. Es war nicht anders als es Tausende meiner Generation und politisch Gleichgesinnter erlebten, die wie ich das Glück hatten überlebt zu haben.“ Lakonisch schrieb Kurt Riemer, dass sich ältere Menschen an besondere Ereignisse in den Kinderjahren sehr gut erinnern können. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn, der 1909 in Berlin geboren wurde, die Ereignisse im August 1914. Einprägsam schildert er, wie er als Fünfjähriger den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte. Kurt befand sich mit seiner Mutter und der zwei Jahre älteren Schwester auf Besuch bei der Großmutter, die in dem Dorf Neuholland im Kreis Oranienburg lebte. Er schildert anschaulich wie die Mutter plötzlich alle Sachen zusammenpackte und zurück nach Berlin eilte. Bildhaft skizziert Kurt Riemer das Gewimmel und Treiben auf dem damaligen Stettiner Bahnhof dem heutigen Nordbahnhof. Die Leserinnen und Leser können durch seine Ausführungen die damalige Kriegsbegeisterung der Menschen nachempfinden. Er gewann damals den Eindruck, dass der Sieg über die Feinde bereits errungen war. Zurecht erinnert Kurt Riemer daran, dass seine Erinnerungen an die Geschehnisse in den Jahren von 1914 bis 1918 geprägt wurden durch den weiteren Verlauf und das harte Leben in den Kriegsjahren. Bildhaft schildert der Autor, wie er als Zehnjähriger die Tage der Novemberrevolution 1918 in Berlin erlebte. Gleiches gilt für die Erinnerungen an den Kapp-Putsch 1920. Er berichtet, dass diese persönlichen Erlebnisse mitbestimmend waren für sein späteres politisches Leben. Ausführlich geht Kurt auf seinen Weg zum Wergzeugmacher ein. Die Nutzer der Biografie erfahren, dass es ihm gelang, 1923 eine Lehrstelle bei den Siemens-Schuckert Werken in Berlin zu erlangen. Man erfährt, dass die Ausbildung zum Facharbeiter sehr gründlich war mit dem Ziel des Betriebes, sich eine folgsame Stammbelegschaft zu schaffen. In diesem Zusammenhang schildert er, dass nach einer zweijährigen Lehrzeit im Betrieb die Spezialisierung zum Werkzeugmacher begann in dem er in den Werkzeugbau des Elektromotoren-Werkes kam. Hier fand Kurt trotz Verbot den Weg zur Gewerkschaft. Er organisierte sich im Deutschen Metallarbeiterverband (DMV). Seinen Hinweis, dass er sich als Lehrling nicht politisch engagieren darf erwiderte sein Arbeitskollege „Du musst Dir für Dein ganzes Leben merken alles was für die Arbeiter gut ist, ist im Kapitalismus verboten.“ Diesen klassischen Satz hat Kurt nie vergessen. Im Zeitabschnitt von 1927 bis zum 30. Januar 1933 skizziert er außerordentlich einprägsam seine Tätigkeit als Werkzeugmacher und seine politischen Aktivitäten innerhalb der Gewerkschaft und als Mitglied der KPD. Der Autor verweist an Hand zahlreicher Beispiele, dass von Seiten der KPD und der SPD sowie den Gewerkschaften unmittelbar nach der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland der Widerstand gegen das NS-Regime organisiert wurde. Er schildert wie die KPD Mitglieder gezielt und diszipliniert in den illegalen Widerstand gingen, indem sie jede Möglichkeit nutzten, um Parteieigentum aller Art sicherzustellen. Überzeugend legt Kurt Riemer dar, wie die illegale Tätigkeit organisiert wurde. Um drohenden Verhaftungen zu entgehen wurden abgeschottete Fünfergruppen gebildet, illegale Treffpunkte festgelegt. Dazu nutzten die Widerständler die zahlreichen Möglichkeiten, sich an den Berliner Seen und Wäldern zu treffen. Sie nutzten auch die Möglichkeit, in die bürgerlichen Sport- und Kulturvereine einzutreten, um sich dort – unerkannt – auszutauschen. Die Leserinnen und Leser erfahren auch, daß bei aller Gefährlichkeit bei dem Wirken gegen die braune Diktatur die Widerständler sich zu fröhlichem Tun zusammenfanden. Da Kurt Riemer den NS-Schergen nicht unbekannt war, riet ihm Robert Uhrig, auf Wanderschaft zu gehen, um so unterzutauchen. Er folgte dem Rat und fuhr mit dem Fahrrad von Berlin durch Sachsen, Bayern, Württemberg-Baden und die Rheingebiete, den Schwarzwald und die Oberpfalz. Die Radwanderung nutze Kurt Riemer sowohl für seine politische als auch kulturelle Bildung. Ende September 1933 kehrte er nach Berlin zurück und nahm sein normales Leben wieder auf. Seine illegale Verbindung zu Max Riedel und Robert Uhrig wurde intensiv und konspirativ fortgesetzt. Trotz aller Vorsicht kam ihm im Januar 1934 die Gestapo auf die Spur. Es erfolgte seine Verhaftung und er wurde in das von der SA geführte Konzentrationslager „Maikowski-Haus“ verschleppt. Das Konzentrationslager war nach dem SA-Sturmführer benannt, der im Januar 1933 umkam. Kurt wurde dort brutal verhört. Den Nazis war es gelungen, Max Riedel zu verhaften, der unter der Folter zugegeben hatte, Kurt Riemer Exemplare der illegalen „Roten Fahne“ übergeben zu haben. Bei der Gegenüberstellung sagten sie gleichlautende Fakten aus, um zu verhindern, dass weitere Kampfgefährten verhaftet wurden. Da Max Riedel in einem anderen Stadtbezirk wohnte, konnte Kurt glaubhaft aussagen, nicht zu dessen illegaler Gruppe zu gehören. Im weiteren Verlauf seiner Haftzeit geriet er an einen Gestapo-Kommissar, der offensichtlich schon vor 1933 bei der Polizei tätig gewesen war und sich menschlich verhielt. Er nahm die Aussagen von K. Riemer, nur zufällig illegales Material angenommen zu haben, als Wahrheit zur Kenntnis und verfügte seine sofortige Entlassung aus der Haft – nach dem Kurt Riemer sich verpflichtet hatte, sich nicht mehr politisch gegen das Regime zu betätigen. Dieser setzte sein illegales Wirken dennoch umgehend weiter fort. Er beschreibt faktenreich, wie unter Leitung von Robert Uhrig der Widerstand in Berlin organisiert wurde. K. Riemer beschreibt einprägsam, wie nach der Verhaftung von Robert Uhrig der illegale Widerstand, nun unter seiner Leitung, fortgesetzt wurde. Stolz berichtet er, dass die Widerständler sogar Kontakt zu R. Uhrig herstellen konnten, der eine Zuchthausstrafe in Luckau verbüßte. Es gelang ihnen, illegales Material, getarnt als Geschenksendungen, nebst Teilen für ein Transistorradio in das Zuchthaus einzuschmuggeln, so dass die Häftlinge Kontakt zur Außenwelt erhielten. Durch seine Schilderung über das illegale Wirken der Uhrig-Organisation von 1936 bis 1942 ist zu erfahren, das von Berlin aus ein engmaschiges illegales Netz über das gesamte Land bis nach Österreich aufgebaut wurde. Kurt Riemer erläutert, dass die gesamte politische Arbeit trotz der hohen Verluste und Rückschläge darauf ausgerichtet war, den Zusammenhalt der KPD zu sichern, zerrissene Verbindungen wieder herzustellen und Verbündete aus allen Schichten der Bevölkerung für den illegalen Widerstand zu gewinnen. Die Widerständler bemühten sich besonders um die noch verbliebenen Sozialdemokraten, um die erstrebte Einheitsfront gegen die NS-Diktatur doch noch herzustellen. Er schreibt: „Unser Ziel war und blieb, unter den schwierigsten Bedingungen aus eigener Kraft das NS-Regime zu stürzen.“ Der Autor berichtet detailliert über die Ursache, die zur Zerschlagung der Uhrig-Organisation führte und betont, dass er nur durch das standhafte Schweigen seiner Kampfgefährten überlebte. Die Gestapo nahm Kurt Riemer unter der Annahme, dass er durch die Bekanntschaft mit Robert Uhrig zu der Organisation gehöre, im September 1943 fest. Es gelang ihm durch geschicktes Verhörverhalten, diesen Verdacht zu entkräften; dennoch wurde Kurt im September 1943 in das Konzentrationslager Sachsensenhausen verschleppt. Die dortige Haftzeit bis zum Todesmarsch im April 1945 beschreibt er faktenreich. K. Riemer kam zu Gute, dass er als Werkzeugmacher in den SS-Werkstätten Fronarbeit leisten musste, wobei er zugleich seine Kenntnisse für die Sabotage der Rüstungsproduktion nutzen konnte. Die LeserInnen der Publikation erfahren, dass Kurt Riemer als Aktivist der ersten Stunde – entgegen seinem Wunsch, Lehrausbilder zu werden – zunächst die Funktion des Bürgermeisters in dem ostbrandenburgischen Dorf Telschow zu übernehmen hatte, ehe er in seinen nachfolgenden Tätigkeiten ein anerkannter Wirtschaftsfachmann der DDR wurde. Am 30. September 1971 beendete er sein berufliches Wirken. Die Autobiografie von Kurt Riemer ist das Spiegelbild eines Mannes, der die ganze Dramatik des 20. Jahrhunderts er- und durchlebte. Sie ist ein ausgezeichnetes Lesebuch für die gegenwärtige Zeit.
Aktualisiert: 2022-12-11
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