Ob Aktien mit einem überproportionalen bzw. unterproportionalen Stimmrecht ausgestattet werden dürfen, war nicht ohne Grund lange eine der strittigsten Fragen im Aktienrecht. Denn zum einen zählt das Stimmrecht zu den wichtigsten Rechten des Aktionärs. Es gibt dem Aktionär die Möglichkeit, sich über die Hauptversammlung an der Willensbildung in der Aktiengesellschaft zu beteiligen. Zum anderen steht die Gewichtung des Stimmrechts in Zusammenhang mit fundamentalen Fragen des Aktienrechts an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht sowie den Wirtschaftswissenschaften, namentlich wem die Aktiengesellschaft gehört, wer sie wie und in welchem Umfang und in wessen Interesse leiten und wer sie kontrollieren soll. Allerdings wurde die Frage nach der Stimmgewichtung von legislativer Seite unlängst relativ eindeutig beantwortet. Seit 1998 sieht das Aktienrecht vor, dass die Stimmrechtgewichtung weitestgehend proportional zum eingesetzten Kapital zu erfolgen hat. Vereinfacht gesprochen, eine Aktie, ein Stimmrecht, oder in die englische Sprache gewendet one share – one vote. Das sog. One-Share-One-Vote- oder 1S1V-Prinzip wird vor allem im angelsächsischen Raum, letztendlich aber weltweit, im Zusammenhang mit der Aktionärsdemokratie propagiert. Das Konzept der Aktionärsdemokratie gewann in den USA seit den 1920er Jahren immer mehr an Popularität. In diesem Lichte sind auch die Entwicklungen zu sehen, die sich im deutschen Aktienrecht kurz vor der Jahrtausendwende ereigneten und die zur Abschaffung von Höchst- und Mehrstimmrechten im deutschen Aktienrecht führten. Mit der Einführung des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) im Jahr 1998 wurden alle Abweichungen von dem 1S1VPrinzip für börsennotierte Aktiengesellschaften mit Ausnahme von stimmrechtslosen Vorzugsaktien abgeschafft. Ziel war es, den Kapitalmarkt in Deutschland zu liberalisieren und für ausländische Investoren attraktiver zu machen. Das bis dahin bestehende Corporate-Governance-System aus Beteiligungsverflechtungen von Großbanken und Versicherungen mit deutschen Wirtschaftsunternehmen – die sog. Deutschland AG – sollte gesprengt und dem angelsächsischen Modell angenähert werden (siehe § 2). Scheinbar mit Erfolg: Deutschland hat seitdem einen belebteren Unternehmensmarkt, der Kapitalmarkt lockt ausländische Investoren an, und die Großbanken haben ihre Beteiligungen deutlich reduziert. Jetzt, nach mehr als fünfzehn Jahren der Entwicklung hin zu einem nach angelsächsischem Vorbild liberalisierten Kapitalmarkt, mehren sich jedoch die kritischen Stimmen. Neben spektakulären Pleiten (in den USA: Enron, Worldcom etc.), medial begleiteten feindlichen Übernahmen (Mannesmann), enormen Gehaltssteigerungen in den Vorstandsetagen und „Heuschreckendebatten“ war es zuletzt vor allem eine der größten globalen Finanzkrisen aller Zeiten, die dazu führte, dass Politiker, Spekulanten5 und auch Publizisten konservativer Medien begannen, das neoliberale Wirtschaftsmodell angelsächsischer Prägung in Frage zu stellen. In diesem Klima stellt sich die Frage nach der Zweckmäßigkeit eines nach angelsächsischem Vorbild liberalisierten Kapital- und Finanzmarktes und damit folgerichtig auch nach der rigiden Stimmrechtsproportionalität. Erste Stimmen verlangen bereits wieder die Wiedereinführung von Mehrstimmrechten – die wohl stärkste Abweichung vom 1S1V-Prinzip – in das deutsche Aktienrecht. Die Forderung wird zum Teil auch deshalb laut, weil eine europarechtliche Harmonisierung weiter auf sich warten lässt und daher Unternehmen mancher Mitgliedstaaten noch immer über Abwehrinstrumente wie Mehr- und Höchststimmrechte verfügen. Der Autor vollzieht in dieser Studie die weltweite Entwicklung des 1S1V-Prinzips nach. Deutschlands Hinwendung zu einer rigiden Stimmrechtsproportionalität war kein singulärer Akt, sondern vielmehr Teil einer globalen Entwicklung. Als sich der deutsche Gesetzgeber mit der Einführun
Aktualisiert: 2023-04-06
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