Aus der versuchten polizeilichen Aufhaltung Flüchtiger auf Bundesobahnen durch die Aufstauung unbeteiligter Verkehrsteilnehmer resultierten im Jahr 2003 zwei schwere Unfälle, die Anknüpfungspunkt für Judikatur und die beginnende juristische Diskussion über die Rechtmäßigkeit und die Staatshaftungsfolgen solcher Maßnahme waren. Auf diesen Szenarien aufbauend recherchiert der Autor die polizeiliche Praxis und stellt fest, dass es sich bei dem sog. "künstlichen Stau" um eine Routinemaßnahme handelt, deren Einsatz die Polizei als ultima ratio zur Beendigung vorausgegangener Verfolgungsfahrten regelmäßig als gerechtfertigt ansieht. Verfolgungsdynamik und Eskalationsspirale schaffen dabei im Zusammenspiel mit mangelnden Praxisstandards unter den extremen Bedingungen von Verfolgungsfahrten auf Bundesobahnen ein überdurchschnittliches Gefahrenpotential. Ohne ihr Wissen in die Maßnahme zur Aufhaltung eines Flüchtigen eingebunden haben die Betroffenen den Eingriff in Grundrechtspositionen zu gewärtigen. Eine spezifische Ermächtigungsgrundlage gibt es nicht. Insbesondere lässt sich eine solche nicht bei schwerpunktmäßig repressivrechtlicher Zuordnung der Maßnahme aus Strafprozess- bzw. Straßenverkehrsrecht herleiten. Wenn die Maßnahme primär präventivrechtlich zu qualifizieren ist, kommt im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwangs im Sofortvollzug nur der Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel des jeweiligen Landespolizeirechts im Zusammenspiel mit den einschränkenden Anforderungen an die Inanspruchnahme von Nichtstörern als Ermächtigungsgrundlage in Betracht. Die hierfür tatbestandlich erforderliche Gefahrenbejahung bedingt indes dann die Rechtswidrigkeit des künstlichen Staus, wenn - wie regelmäßig - durch die Maßnahme selbst zugleich Gefahren für die zentralen Rechtsgüter der Nichtstörer erwachsen. Ihre Rechtsgüter gegenüber der erhofften anderweitigen Schadensabwendung in die Waagschale zu werfen und preiszugeben, gestattet im Kern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht. Die Untersuchung richtet sich nicht nur an Verantwortungsträger in den Polizeibehörden, Polizeihochschulen und Innenministerien der Bundesländer, sondern auch an Geschädigte und mit der Haftungsregulierung befasste Personen und Institutionen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Inanspruchnahme staatlicher Rechtsträger auf Ersatz von Schäden zu, die in die Maßnahme künstlicher Stau Eingebundene bei Kollisionen erleiden. Ihre Rechtsposition hat sich dabei durch die Möglichkeit, Ersatz auch des immateriellen Schadens im Rahmen straßenverkehrsrechtlicher Halterhaftung zu erlangen, erheblich verbessert. Die neuere Judikatur bejaht zugleich den Haftungszurechnungszusammenhang zwischen der polizeilichen Einleitung des künstlichen Staus und Unfällen am Stauende. Angesichts dieser Entwicklung verlieren die Nachteile der ergänzend dargestellten überkommenen Staatshaftungsrechtsinstitute mit ihrer tatbestandlichen Zersplitterung, den gegebenen Subsidiaritäts- und Verweisungsprivilegien und den Einschränkungen im Umfang der Schadenskompensation an Brisanz. Die Darstellung zur Anspruchsdurchsetzung schließt mit Ausführungen zum Umfang der Ersatzleistungen, Verjährung und Verfahrensfragen. Angesichts des konkreten Gefahrenpotentials insbesondere für Unbeteiligte, des naheliegenden Verdikts der (öffentlich-rechtlichen) Rechtswidrigkeit und der zugleich erheblich verbesserten Möglichkeit der Durchsetzung von Haftungsansprüchen Geschädigter gegen den staatlichen Rechtsträger plädiert der Verfasser insgesamt für größtmögliche Zurückhaltung bei dem Einsatz der Maßnahme künstlicher Stau.
Aktualisiert: 2019-12-20
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