Textauszug:
Was der Satz sei, der am meisten Nutzen für ihn beinhalte, wollte sie von ihm wissen, sollte zunächst aber den eigenen preisgeben. Lena musste nicht lange überlegen. Sie dachte an ihre erst kurz zuvor beendete zweite Liebe in Spanien, den deutschen Wasserskiboot-Fahrer mit dem grenzenlosen Charme, dem jede Frau von 16-90 bedingungslos zu Füßen lag, und sie zitierte Paracelsus: „Alle Dinge sind Arznei und Gift. Allein die Dosis macht den Unterschied.“
Roman fiel es schwer, sich auf einen einzigen Satz zu beschränken. Vielleicht „Nicht stehen bleiben?“, meinte er dann aber und fuhr scheinbar unvermittelt fort: „Filme sind ein Stück konzentrierte Lebens-Erfahrung, die man sich kaufen kann. Filme haben mir immer, auch schon als Kind, geholfen, über Dinge hinweg zu kommen. In meiner Phantasie habe ich das eigene Leben dann oft einfach aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, hab' Trübes darin neu coloriert und hab’ so meinen Lebensfilm zu einem deutlich schöneren gestaltet, zu einem, in dem ich gern leben mochte.“
„Jetzt geht's an's Eingemachte“, vermutete Lena. Sie war bereit, ihm dabei zu assistieren, war voll und ganz willens, ihm aufmerksamst zuzuhören, ihn schlimmstenfalls sogar zu trösten, in jedem Fall aber wollte sie ihn mit ungeteilter Anteilnahme unterstützen. „O! Was war das Schlimmes?“ fragte sie ihn und dachte, er würde jetzt ganz sicher gleich alle Unbill seines Lebens vor ihr ausbreiten. Anteilnehmend und ermutigend hielt sie den Kopf in Schieflage, samt ihrer in Dackelfalten gelegten, noch kindheitswarmen Stirn.
Aber Roman schien auszuweichen. „Filme und ihre Geschichten können oft auf wunderbare Weise unterhalten, wenn man gestresst ist. Zugleich schaffen sie etwas Abstand, was allein manchmal schon Wunder bewirken kann. Denn vielleicht sehen wir nach dem Film, nach dieser kurzen Ablenkung von uns selbst, den Ursprung für unsere momentan unglückliche Lage aus einer ganz neuen Perspektive?
Unsere komplette Erinnerung, unsre gesamte Biographie eigentlich, ist doch ein Film. Das Gute daran: Niemand kann uns zwingen, allzu Schmerzhaftes für alle Zeit darin zu belassen. Wenn der Punkt gekommen ist, an dem wir aus manchem Schlimmem nichts mehr lernen können, warum dann nicht einfach raus damit? Wir selbst und niemand anderes ist der Regisseur, der bestimmt, was retrospektiv drin bleibt in unserem Leben - und was nicht...!
Jeder kann sich spätestens als Erwachsener die Erinnerungen raussuchen, die ihm gut tun. Aus diesen goldenen Momenten kann er den eigenen bisherigen Lebens-Film so schön gestalten, wie er will. Genau so, wie er ihm taugt!“
Jahre später prägte ein kluger Spaßvogel den Satz: „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.“ Lena glaubte, genau davon habe Roman gesprochen.
Ungeachtet ihrer Enttäuschung, nicht als große Trösterin fungieren zu dürfen, fuhr er fort. Schlimmes erlebe in der einen oder anderen Form doch jeder. Man dürfe nur nie und nimmer stehen bleiben dabei! Man solle bereit sein, Stolperstellen nicht hinzunehmen, sie vor allem keinesfalls als Biographie-Knick über zu bewerten, sondern man solle Störfallen einfach Schritt für Schritt abbauen.
Und dann wär' es natürlich immer auch ratsam, mit Dankbarkeit auf all das zu schauen, was einem noch übrig geblieben sei - trotz allem?
Er war nicht offen dafür, auch nur das kleinste Problem preiszugeben. Über Negatives wollte er nicht sprechen. „Wer am Leid festhält, wer sich als Opfer sieht und sich dadurch wehrlos macht, der hat das Leben gründlich missverstanden!
Wenn man sich aber erst mal überwunden hat, wenn man sich ganz bewusst entscheidet, das Beste aus dem verbliebenen Leben zu machen, in erster Linie aus den eigenen Fähigkeiten das Bestmögliche zu machen, dann gelingt es plötzlich viel leichter, harte Zeiten als nicht mehr so bedrohlich zu erleben.“
Sie antwortete zustimmend „hm“ und hoffte, sich all das merken zu können.
„Schlussendlich, denk' ich, jede einzelne negative Erfahrung von außen soll einen vor allem daran erinnern, dass das Leben nicht ewig dauert. Dass man nicht unbegrenzt Zeit hat, um sein Leben mit wirklich Eigenem zu füllen!“ Dieser Spruch gefiel ihr sogar noch mehr. Offenbar gehörte auch er zu den Leuten, für die nichts eine Beliebigkeit darstellte.
Der Barmann und gleichzeitige Disc-Jockey zeigte sich extremst geduldig und genügsam. Seine Einnahmen in diesen fast acht Arbeitsstunden beliefen sich auf die insgesamt sechs Getränke dieser beiden einzigen Bar-Besucher, ohne dass er jemals ein Schließen der Bar angedroht hätte. Der Abend endete damit, dass alle drei sich freundlich die Hand gaben. Lena kritzelte Roman wunschgemäß die Telefonnummer ihres Wolkenkratzer-Studentenwohnheims in Bern auf, wenngleich es dort pro Stockwerk nur einen Anschluss gab.