Generalität des Körpers
Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften
Jörg Michael Kastl
»Der gemeinsame Stoff, aus dem alle Strukturen bestehen, ist das Sichtbare«. Die Geltungsansprüche soziokultureller Sinnstrukturen setzen stets eine offene Generalität der Körper, ihrer Grammatik und ihrer sensomotorischen Korrelationsmatrices voraus. Sprache, Kommunikation und Gesellschaft bleiben körpergebunden und sind daher nicht als Systeme, sondern nur als Felder sozialer Praxis mit Reichweiten, Anonymitätszonen und Horizonten versteh- und analysierbar. Diese Thesen im Zusammenhang einer Revision der soziologischen Lektüre des Werkes von Merleau-Ponty zu konkretisieren, ist das Anliegen des Buches.
Bis heute wird übersehen, dass dieser bereits in den 1950er Jahren die Transformation eines romantischen in ein strukturales Körperkonzept vollzog. Dieses Programm lässt sich auch als vorweggenommene Kritik eines Konzepts (deutscher) »Leiblichkeit« lesen, das mittlerweile Eingang in die Soziologie gefunden hat und mit dem Namen Hermann Schmitz verknüpft ist.
Interessant ist die Linie zu den aktuellen soziologischen Praxistheorien. Pierre Bourdieu konnte wesentliche Elemente seines praxeologischen Ansatzes den Vorlesungen Merleau-Pontys entnehmen, allerdings bleibt dieser Einfluss und mit ihm die Brüche in Merleau-Pontys Denken unterreflektiert. Das erklärt das Nebeneinander von romantischem Körperkonzept und strukturalistischem Vokabular in Bourdieus Praxistheorie, das bis in die heutige soziologische Theoriediskussion nachwirkt.
Die vorliegende Studie entdeckt Merleau-Ponty als Kritiker eines romantischen Körperkonzepts, als Cartesianer gegen den Strich, als Gedächtnis-, Sprach- und Strukturtheoretiker neu. Seine Vorlesungen der 1950er Jahre hinterfragen Grenzziehungen der »Menschenwissenschaften« (Elias) und eröffnen Perspektiven eines interdisziplinären Verständnisses von Natur, Kultur und sozialer Struktur jenseits von Naturalismus, Kulturalismus und Strukturalismus.