Ursprünge des Islamismus im Osmanischen Reich
Eine weltsystemanalytische Perspektive
Aslı Vatansever
Eine aus der angeblich antimodernen Essenz des Islam stammende Anomalie. Ein Resultat der postkolonialen Enttäuschung. Eine reaktionäre Antwort auf die wirtschaftliche und kulturelle Marginalisierung der muslimischen Welt. Eine antiimperialistische Drittweltbewegung. Oder eine extremistische Bedrohung für die Welt. Vieles wurde bisher über den Islamismus geschrieben und gesagt, doch selten wurden die historischen Entstehungsbedingungen der ursprünglichen islamistischen Reaktion im 19. Jahrhundert beachtet. Diese Studie ist ein materialistischer Beitrag zur Erklärung der Entstehungsgeschichte des Islamismus. Im Fokus steht das Osmanische Reich des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Die Hauptthese let, dass der Islamismus ursprünglich als eine amorphe Volksreaktion ab Mitte des 18. Jahrhunderts gegen die negativen wirtschaftlichen sowie soziokulturellen Effekte der Einbeziehung als Peripherie ins kapitalistische Weltsystem entstand. Aufgrund ihres anti-kapitalistischen Charakters, ihrer breiten Volksbasis und spontanen Organisations- und Erscheinungsform wird die ursprüngliche islamistische Reaktion als eine moderne anti-systemische Bewegung gewertet. Als theoretische Referenz bezieht sich die Studie an erster Stelle auf das weltsystemanalytische Inkorporations- und Peripherisierungsschema, das von dem US-amerikanischen historischen Soziologen Immanuel Wallerstein entworfen und von seinen Nachfolgern Çağlar Keyder, Şevket Pamuk und Reşat Kasaba verfeinert wurde. Zur Erklärung der inhärenten Widersprüche und Besonderheiten der osmanischen Sozialstruktur, die mutmaßlich bei dem spezifischen Akteurprofil und der Auswahl einer religiösen Rhetorik maßgeblich waren, zieht die Autorin die materialistischen Analysen vom Osmanistikforscher Kemal Karpat heran. Die Studie bedient sich der Forschungsmethoden der historischen Soziologie und bietet eine neue Perspektive auf die Entstehung des Islamismus.