Die Anwendung von Rechtsprinzipien in der Spruchpraxis der WTO-Rechtsmittelinstanz.
Götz J. Göttsche
Die am 1. Januar 1995 erfolgte Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) gilt als Meilenstein in der Entwicklung der internationalen Handelsbeziehungen. Dabei läßt sich die Bedeutung, die dem WTO-Recht heute zukommt, zu einem erheblichen Teil auf die Effektivität des neugeschaffenen Streitbeilegungsmechanismus (DSU) zurückführen.
Die WTO-Streitbeilegungsorgane wenden im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung das von den WTO-Mitgliedern ausgehandelte Völkervertragsrecht an, also das WTO-Übereinkommen selbst sowie dessen umfangreiche Anhänge. Wie die bisherige Spruchpraxis zeigt, wird zur Lösung welthandelsrechtlicher Streitfragen jedoch nicht nur auf die darin kodifizierten Regeln, sondern auch auf mehr oder weniger abstrakte rechtliche Prinzipien zurückgegriffen. Mit Bezügen zum rechtstheoretischen Instrumentarium der sog. Prinzipienlehre identifiziert und systematisiert der Verfasser die in der bisherigen Entscheidungspraxis vor allem der WTO-Rechtsmittelinstanz (Appellate Body) zur Anwendung gekommenen Rechtsprinzipien.
Unterschieden wird dabei zwischen den „klassischen“ handelsrechtlich orientierten Prinzipien des GATT bzw. der WTO (Nichtdiskriminierung, Gegenseitigkeit, Transparenz etc.) und solchen Prinzipien, die ihren Ursprung zum Teil außerhalb des WTO-Vertragswerkes haben (z. B. Kooperation, Vorsorge, effet utile und due process). Dabei wird nachgewiesen, daß auch im WTO-Recht Rechtsprinzipien nicht nur zum Zwecke der Interpretation und Lückenfüllung herangezogen werden, sondern sie in ihrer Gesamtheit zugleich relevante normative Bezugspunkte liefern, anhand derer sich einerseits Grundstrukturen der WTO-Rechtsordnung aufzeigen lassen, mittels derer sich andererseits aber auch eine kohärente Anwendung des WTO-Rechts gewährleisten läßt.