„Riten“ beginnen bei „Essen und Trinken“
Entwicklung und Bedeutung von Etikettevorschriften im Japan der Edo-Zeit am Beispiel der Tischsitten
Michael Kinski
Die Frage nach der ethischen Ausformung der Person und der Gestaltung des Gemeinwesens ist für den Konfuzianismus im Japan der Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung. Zu ihrer Beantwortung diente vielen Gelehrten der Zeit das Konzept der „Riten“ als Mittlerinstanz zwischen ethisch anspruchsvoller Lebensbewältigung und konventioneller Sittlichkeit. Auffällig ist jedoch die Abwesenheit konkreter lebensweltlicher Anweisungen. Diese Lücke schließt die Etiketteliteratur mit ihren praktischen Ordnungsentwürfen, die auf der Basis einer Normierung des sozialen Verkehrs das konfuzianische Gesellschaftskonzept transportieren.
Michael Kinski weist dem Zeitraum zwischen 1500 und 1868 eine entscheidende Rolle für die Herausbildung eines Typs von Normschrift zu, der für den weiteren Werdegang des Genres nach der sogenannten Landesöffnung prägend wurde. Anschauliche Beispiele für zwei Teilbereiche der Essetikette – die Reihenfolge, in der die Speisen zu verzehren sind, und die Kontrolle, der bestimmte Äußerungen des Körpers unterzogen werden – machen deutlich, dass im Untersuchungszeitraum ein qualitativer Wandel zu beobachten ist, innerhalb dessen sich ein Kanon von Höflichkeitsregeln für die harmonische Regulierung der Sozialbeziehungen allgemein ausbildete. Kinski beschreibt diese Entwicklung als einen Prozess der Standardisierung und Verallgemeinerung von Verhaltensanweisungen, in dessen Verlauf Etiketteregeln eine Allgemeingültigkeit beanspruchen, die über die durch Statusgrenzen bedingte Fragmentarisierung früherer Normschriften hinausgeht.