Die Politik der Buchstaben
Poetik und Theologie in der alphabetischen Literatur
Stefanie Leuenberger
Visuelle Poesie und buchstabenkombinatorische Texte werden hier neu gelesen als Auseinandersetzung mit den Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Literarische Texte, die die Buchstaben exponieren, etwa Leipogramme, visuelle Poesie und Dialektgedichte, sind keine leere Spielerei, sie zu schaffen dient nicht dem bloßen Ausweis von Meisterschaft. Sie entstehen in der Moderne dank einer produktiven Auseinandersetzung mit der Kabbala und dem historischen Diskurs der Kombinatorik, so Leuenbergers These: Die Texte berufen sich auf die Vorstellung von der Erschaffung der Welt durch Buchstabenkombination. Da seit der Spätantike die Lettern in visuellen Darstellungen und in mystischen und diskursiven Texten oft menschengestaltig dargestellt werden, kann man die Art der Verbindung zwischen den Buchstaben im Text als eine Reflexion über die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens lesen. Buchstabentexte prüfen kritisch das bestehende politische System und zeigen durch Neukombination ihrer Elemente Alternativen auf. Sie diskutieren den Umgang der Gesellschaft mit ihrer Geschichte und die Konsequenzen der Erinnerungspolitik für Gegenwart und Zukunft. Und sie thematisieren die Haltung des Gemeinwesens gegenüber der eigenen und fremden Sprache, gegenüber der Sprache und dem Körper des »Anderen«.