Unsere frühesten zusammenhängenden Erinnerungen reichen bis in das dritte Lebensjahr zurück. Was davor war, reduziert sich auf blitzhafte Momente intensiver Wahrnehmungen: Laute, Gerüche, Bilder, denen Kontext und Narration fehlen. Ihre Einbettung in Erzählungen, die solche Momente nachträglich erst erklärund interpretierbar machen, geschieht zumeist durch nahestehende Personen: Eltern, Geschwister, Verwandte, eventuell deren Freunde, Kollegen und Nachbarn. Wenn wir an unserem Dasein als Kleinkind ernsthaft interessiert sind, erhalten wir durch die Überliefernden Versionen unserer ersten Lebensphase, die neben Dokumenten wie Geburtsurkunden und Fotografien seltsam fremd bleiben, nicht uns zu gehören scheinen, weil wir uns eher als Objekte, denn als Subjekte dieser Erinnerungen anderer an uns empfinden. Wir konstituieren unser Selbst erst entlang dieser fremden Erinnerungen, die mit zunehmendem Alter mit unseren eigenen in Beziehung treten: komplementär und kongruent aber auch kompliziert und konfligierend. Von solch einem physisch und psychisch äußerst schmerzvoll verlaufenden Prozess handelt der vorliegende autobiografische Bericht. Hier beginnen die Zweifel des sich Erinnernden an einer normal verlaufenen frühen Kindheit bei der alarmierenden Diagnose seines Zahnstatus, als dessen Ursache das Zähneknirschen identifiziert wird, das ihn schließlich dazu veranlasst, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Dadurch gelingt es ihm zwar ein frühkindliches Defizit an mütterlicher bzw. allgemein menschlicher Zuwendung aufzudecken, doch dadurch ist für ihn fast gar nichts gewonnen: es ist ein für alle Mal verschüttete Milch. All die psychologischen Erkenntnisse darüber, in die er sich als studierter und lehrender Historiker einzulesen versteht, helfen ihm nicht, seine Seele zu heilen, das bloße Überleben zu einem wirklichen Leben zu qualifizieren. Dieses zugleich mühsame und spannende schichtenweise Freilegen der frühkindlichen Traumatisierung mit ihren gravierenden Auswirkungen bis ins hohe Alter geschieht in selbstkritischer Offenheit und bemerkenswert schonungsloser Aufrichtigkeit - ein erschütterndes Buch über die Notwendigkeit der subjektiven bzw. Subjekt werdenden Erinnerung, die Grenzen psychotherapeutischer Behandlung und nicht zuletzt über familiäre und institutionelle Transformationsprozesse (Kirche, Klinik, Politik) seit dem Zweiten Weltkrieg.
Aktualisiert: 2019-12-26
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Unsere frühesten zusammenhängenden Erinnerungen reichen bis in das dritte Lebensjahr zurück. Was davor war, reduziert sich auf blitzhafte Momente intensiver Wahrnehmungen: Laute, Gerüche, Bilder, denen Kontext und Narration fehlen. Ihre Einbettung in Erzählungen, die solche Momente nachträglich erst erklärund interpretierbar machen, geschieht zumeist durch nahestehende Personen: Eltern, Geschwister, Verwandte, eventuell deren Freunde, Kollegen und Nachbarn. Wenn wir an unserem Dasein als Kleinkind ernsthaft interessiert sind, erhalten wir durch die Überliefernden Versionen unserer ersten Lebensphase, die neben Dokumenten wie Geburtsurkunden und Fotografien seltsam fremd bleiben, nicht uns zu gehören scheinen, weil wir uns eher als Objekte, denn als Subjekte dieser Erinnerungen anderer an uns empfinden. Wir konstituieren unser Selbst erst entlang dieser fremden Erinnerungen, die mit zunehmendem Alter mit unseren eigenen in Beziehung treten: komplementär und kongruent aber auch kompliziert und konfligierend. Von solch einem physisch und psychisch äußerst schmerzvoll verlaufenden Prozess handelt der vorliegende autobiografische Bericht. Hier beginnen die Zweifel des sich Erinnernden an einer normal verlaufenen frühen Kindheit bei der alarmierenden Diagnose seines Zahnstatus, als dessen Ursache das Zähneknirschen identifiziert wird, das ihn schließlich dazu veranlasst, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Dadurch gelingt es ihm zwar ein frühkindliches Defizit an mütterlicher bzw. allgemein menschlicher Zuwendung aufzudecken, doch dadurch ist für ihn fast gar nichts gewonnen: es ist ein für alle Mal verschüttete Milch. All die psychologischen Erkenntnisse darüber, in die er sich als studierter und lehrender Historiker einzulesen versteht, helfen ihm nicht, seine Seele zu heilen, das bloße Überleben zu einem wirklichen Leben zu qualifizieren. Dieses zugleich mühsame und spannende schichtenweise Freilegen der frühkindlichen Traumatisierung mit ihren gravierenden Auswirkungen bis ins hohe Alter geschieht in selbstkritischer Offenheit und bemerkenswert schonungsloser Aufrichtigkeit - ein erschütterndes Buch über die Notwendigkeit der subjektiven bzw. Subjekt werdenden Erinnerung, die Grenzen psychotherapeutischer Behandlung und nicht zuletzt über familiäre und institutionelle Transformationsprozesse (Kirche, Klinik, Politik) seit dem Zweiten Weltkrieg.
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