handverlesen

handverlesen von Hagemeyer,  Ines, PAPI
ÜBER SCHATTEN UND NEBEL Je tiefer ich in die hier versammelten Gedichte einsteige und sie begreife, umso mehr staune ich. Schon das erste Gedicht in dem Zyklus ist ein kleines Wunder. Die Vielschichtigkeit der Verständnisebenen ist enorm. Nach wenigen Gedichten merkt der Leser: Es geht um Lebensrückblick, Lebenssumme, Erinnerungen, Schmerz, Überwindung, Verdrängung, und all diese schweren Dinge. Der Titel des Buchs deutet es ja schon an: handverlesen. Selbstdeutung des eigenen Schicksals an handverlesenen Gedichten. Die schreibt die Hand im Hirn. In einem Gedicht gibt es die Formulierung: hinter der Nebelwand. Oder: hinter dem Nebel. Das wäre auch ein guter Titel für die Gedichte, die über ein lange gelebtes Leben reflektieren. Hier und da arbeiten Metrum und Rhythmus inhaltlich mit – oft da, wo sich Strenge oder Härte oder Wunden, Krämpfe oder Erstarrungen lösen, da wird auch das Metrum leichter. So im ersten Gedicht [irreal], das wie ein Schlüssel die Tür zum Verständnis des Ganzen aufschließt: fänd ich den Zauberweg
dahin
 zu dem der ich mal war
 trieb ich die Unrast aus
 wodurch ich eiligst wuchs verworfen hätt ich längst den Alp der sich in mir vergrub löste den Knoten der mich zum Schweigen zwang und würde sprechen Es ist das ganze Leben, nicht nur ein erlebter Teil, nicht nur die politische Vergangenheit und der Tod, der Meister aus Deutschland, ist das Thema ... Flucht: „aus der Wiege gespült | an einen weißen Strand ...“ und zweisprachige Kindheit: das familiäre Deutsch einerseits, Spanisch in Uruguay andererseits: „bezweifelte Einwurzelung“ (Rückblende). So wird die Sprache die eigentliche Heimat, obwohl auch immer wieder ein „Absturz der Worte“ (inhärent) droht – das Nichtbegreifenkönnen des erfahrenen Grauens. Nichts aber wäre das Leben ohne das Suchen nach Worten und Sätzen, um die eigene Existenz und die Fremde zu begreifen, die uns umgibt, und die „Erschütterung | die dich zwischen Tür & Angel | kalt erwischt hat“ ... „die ererbte Asche | aus heiterem Himmel“. Asche und Sand ... sind nicht zu tragen ohne Hoffnung: „die Last deiner Väter | gebeugt zu tragen | brauchst du nicht mehr“ (Vision II). Aber quälend vertraut bleiben die „langen Schatten der Mythen“ - und der eigene Tod am Ende des Lebens. Alle Tiefen, die das Leben bietet, sind in den Gedichten verhandelt, auch das Leben anderer, nicht nur das eigene Ich. Zum Trotz gegen alle Unsicherheit des Lebens träumt sich das Ich aus der Welt „an erfundene Orte“ (festgestellt) und in die Sprache und die lyrischen Bilder der Gedichte, das rettet zuweilen. Dann wieder Zweifel: „was glauben wir | den Traumfiguren“ angesichts der Gefahr, die „tags im Dunkeln schlummert“? Es liegt eine Melancholie in den Versen, deren Schönheit bedrohlich gleißt und in die Augen brennt. Schmerzende Wahrheit: homo homini lupus. Und doch – die Kindheit war „nicht nur Schatten und Alb“, es gab „bunte Blätter“ und duftende Erde (Herbst). Und es gibt die Poesie der Sprache! Im „Lied für Gitarre“ heißt es: „was das Gedicht sagt | wenn es schweigt | hüllt sich in Stille | ohne zu verstummen“. Also gibt es doch Hoffnung auf Sagbares und auf Verstehen, auf Übersetzung der Stille in Wissen und Antwort. In einem der schönsten Gedichte, „Lied für Madrid“, scheint das Leben hart und starr und leblos, und doch gibt es in meinem Wald aus Stein benetzte Utopie weht sanft eine Brise trägt meine Haut ein Lied Die Gedichte sind prägnant strukturiert und oft wirkungsvoll pointiert. In ihrer zyklischen Einheit verstärken sich die Gedichte noch. Es geht um die großen Fragen im Leben: wie kann ich überhaupt etwas erkennen, warum lebe ich, was bedeuten meine Träume, was bedeuten die Schatten in meinem Herzen, in meinem Gehirn, in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meiner Erinnerung ... Auch das Schreiben und die Literatur ist ein Thema in den Gedichten. Die Poesie ist ein Erkenntnismittel. Sie hilft, mit dem Leben konstruktiv fertig zu werden oder es wenigstens auszuhalten. Ja, manchmal erschaffen die Worte das Leben, oder sie machen es farbiger, wertvoller. Keine fragwürdige Verdrängung ist gemeint, sondern Bewusstwerdung in der Schönheit von Form und Bild, also der Wahrheit, so gut sie der Schreibende und der Lesende zu verstehen vermag. Noch wichtiger als Schreiben und Lesen ist die tätige Poesie der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie kann, sie soll auch zur großen sozialen Liebe für alle werden. Politik als Poesie! (So sieht es der Philosoph Richard Rorty.) Mit der Liebe im Kleinen müssen wir beginnen. Sie rettet uns als Einzelne, trotz aller Schwierigkeiten und allen Scheiterns. Voraussetzungen für ein gelingendes Leben: bleib schweigsam mit dir | im Einklang [Imperativ] und genieße | das Ende dieser Verse [wenn] auf dem Steg zum Du | Gratwanderung | Grenzwall & Graben | wo das Schweigen gebrochen wird [Werdung] Sanft deutet das ein und andere Gedicht auf die Möglichkeit einer besseren Welt hin: „Gewehre krümmen sich ... Ophelia steigt aus dem Wasser ... & fällt mir in die Arme“. Deswegen gilt: brich dein Schweigen wirf ein Wort in den Ring und bring dich in Stellung Und der eigene Tod? In den letzten Gedichten taucht die Nähe des Todes auf. Er kann nur überdauert werden durch das Werk, durch das Geschriebene, durch die Verse, die Gedichte, die Gedanken, die Ideen ... vielleicht auch durch die Liebe, die einem anderen gegeben wird, die nun weiter wirkt im anderen. Oder ... wenns zu weit kommt, so heißt es augenzwinkernd & meditierend wird der Tag kommen an dem hinter dem Wort Wärme & Brise mich heimlich davontragen & wenns zu weit kommt werd ich das Schweigen übersetzen Dieser Zyklus ergreift mich. Ich bin überzeugt: handverlesen kann in einem Atemzug genannt werden mit der Poesie von Nelly Sachs. Alles gelingt so großartig in den Bildern, in der Sprache, in den Gedanken! Ulrich Bergmann Venedig, Juni 2015
Aktualisiert: 2023-05-30
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Fragen im Schlepptau

Fragen im Schlepptau von Gałczyński,  Władysław, Hagemeyer,  Ines, Pop,  Traian
Kein Ankerplatz, nirgendwo Nachwort zu Ines Hagemeyer, Fragen im Schlepptau Nomen est omen – der Titel ihres neuen Gedichtbands sagt schon viel: Fragen im Schlepptau. Ines Hagemeyer legt der Öffentlichkeit nach fünf Jahren neue Gedichte vor, die um alte Themen kreisen. Es sind die Fragen, die sie – und die meisten von uns – ein Leben lang nicht loslassen, die wie angekettet an uns hängen, die zu ihr gehören, manche als Last und manche als Schatz. Es sind 8 mal 8 Gedichte, in denen es um Wahrheit und Wahrheiten geht, auch sie im Schlepptau eines langen Lebens. Schon das erste Gedicht („Gegenwelt“) wirft das Thema und die Forderung auf, sich der Tatsachen und Wahrheiten bewusst zu werden, denen wir ausgesetzt waren und immer noch sind in unserem Leben – Ines Hagemeyer nennt diese Vergangenheit „Gegenwelt“, dabei geht es auch um ihre ganz eigene Vergangenheit, die sie als Kind jüdischer Eltern erlitt: Fluchtartige Ausreise aus dem von Nationalsozialisten regierten Deutschen Reich gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Als Kleinkind verlässt sie mit ihren Eltern Berlin, fährt auf einem Ozeandampfer nach Uruguay und wächst in Montevideo auf. Auch dort erlebt sie eine Gegenwelt, wenn auch eine rettende, und zu ihrer Muttersprache gewinnt sie die spanische Sprache hinzu. Sie verlor ihre Heimat, bevor diese ihre Heimat werden konnte. Und ihre neue Heimat wird sie auch wieder verlieren – sie liebt einen deutschen Mann, sie heiratet ihn und kehrt, nach einigen Jahren in Spanien, nach Deutschland zurück und lebt nun schon seit Jahrzehnten in Bonn, als Ehefrau und Mutter blickt sie auf ein erfülltes Familienleben zurück. Es bleiben aber unheilbare Wunden, es klingt in anderen Gedichten dieses Bandes an, dass sie im Grunde keine Heimat hat wie die meisten von uns. Ihre wahre Heimat ist die Sprache, die deutsche und die spanische, sie wohnt in der Sprache als Übersetzerin und vor allem wohnt sie in ihrer Sprache als Dichterin. Das Gedicht „Absicht“ verurteilt die Verdrängung der deutschen Schuld nach dem Krieg: „Legendenteppiche für den Unrat ...“, die auch heute wieder verstärkt geknüpft werden. In „Eintrag“ heißt es: „heute herrscht der Tod | während das Leben | unter einer dicken Ascheschicht | kaum noch glimmt“ (nach Abraham Lewin, Warschauer Ghetto 1941). Sie denkt – in „Exildichter“ – an die vielen Künstler, Schriftsteller, Musiker im Exil, die ihre Karrieren verloren, die nach dem Krieg in Deutschland so gut wie vergessen wurden (etwa Erich Wolfgang Korngold). Die Balance von Last und Segen der Erinnerungen wird deutlich in dem Gedicht „Tetralogie“, wo von einem Lebenskreislauf die Rede ist, in „Fata Morgana“ wird das Trügerische der Erinnerungen angesprochen – und in einem anderen Gedicht folgt dafür ein Beispiel: wie sich das kleine Mädchen wie Effi Briest auf der Schaukel hoch hinauf schwang über die Bäume und sich ein „Leben über den Kronen“ erfand („früher II“). Dies sind – wie in vielen folgenden Gedichten – Verse, die nicht nur die eigenen biografischen Wurzeln widerspiegeln, sondern allgemeingültig sind. Es gibt funkelnde und schmerzende Lebenssplitter in jedem Menschenleben. Natürlich erleidet der eine mehr, der andere weniger. So auch in der Liebe. „in der Erinnerung bleiben | wird dein Blick | verloren in der Dämmerung“ („Oktober“). Oder „jenseits der Worte | lauert die Stille ... lass dir Zeit“ („nur“). Dann wieder die schmerzende Erinnerung: „mit der Muschel am Ohr | hör ich ein fernes Rauschen“ („Täuschung“) – es bleibt offen, ob es das Rauschen aus Europa ist oder aus Südamerika, beide Kontinente stehen für die Sehnsucht nach echter Heimat. In der Mitte des Bandes stehen Gedichte, die mit dem Schreiben zu tun haben, mit der schöpferischen Arbeit. „geh ans Ufer deiner Wünsche | fisch dir eine Utopie“, heißt es in dem Gedicht „geh“ – eine Gedankenexkursion in eine positive Gegenwelt. Aber Ines Hagemeyer will auch Verse wie scharfe Splitter – und die sollen „das Auge schärfen für | diese Abgründe der Seele“ (Introspektion III). „der Gesang der Amsel | lädt mich mit ihrem Ruf | zum Diktat ein“ („im Garten“). Die Natur als Meisterin? Das Gedicht „späte Replik“ spielt an auf Hölderlins Gedicht „An die jungen Dichter“: Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht, Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegärt, Bald zur Stille der Schönheit; Seid nur fromm, wie der Grieche war! Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen! Haßt den Rausch, wie den Frost! lehrt, und beschreibet nicht! Wenn der Meister euch ängstigt, Fragt die große Natur um Rat. Ines Hagemeyer stellt fest, dass sie nicht mehr zu den jungen Dichtern gehört und hofft, „gereift zu sein“, dass auch kein Meister sie ängstigt. Nicht die Stille der Schönheit, sondern die Schönheit der Stille zog sie zu Hölderlins Dichtung hin. Rätselvoll ist ihr Gedichtschluss: & nun frag ich oft die Natur nach dem gewaltigen Rest Spielt das auf eine transzendente Zeit an? Oder klingt hier Kritik durch? Es ist die Frage, ob die Natur der größte Meister ist – angesichts der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich ist ja der Mensch Teil der Natur. Die Dichterin will die „Geheimnisse der Stille“, so an anderer Stelle in diesem Band, in Sprache verwandeln. Ein letztes Thema: Bilanz und Lebensvollendung. Ines Hagemeyer spricht in „Bilanz II“ von der Waagschale für so manche Frucht ihres oder auch unseres Lebens. Über das was nach dem Leben kommt, heißt es in dem Gedicht „Unbehagen“ lakonisch: „unheilvolles Land | aus dem niemand wiederkehrt | gibt uns Rätsel auf | bringt uns aber nicht weiter“ und das Gedicht „Vorhaben“ greift in diesem transzendenten Zusammenhang den Gedanken der Heimatsuche wieder auf: „ich suche noch eine Unterkunft | aus verwobenem Licht | mit Wänden aus Traum | & Erinnerung“ – solche Verse sind, aufs Leben bezogen, ernst gemeint. Die Gedichte gewinnen im gesamten Kontext an Kraft, sie verstärken sich gegenseitig. Sie sind in kurzen Versen formuliert, die Gedanken und Bilder erscheinen für sich genommen einfach, sie fächern sich, bezogen auf die angespielten Subtexte, subtil auf und werden so ziemlich komplex. Trotz der Mehrdeutigkeiten im Einzelnen sind es recht klare, schnörkellose Gedichte, die in die Tiefe wirken, in die Tiefe eines Menschenlebens wie in die Tiefen der Seele und der Geschichte. Das Ich in Ines Hagemeyers Gedichten findet keine Heimat, schon gar nicht im Tod, nur in der Sprache findet es ein Exil, allerdings sind immer „erneut Fragen im Schlepptau“ („El reexilio“). Und doch schreibt die Dichterin ein versöhnliches Resumee im letzten Gedicht („gestern“): „die Welt | wie sie sich zeigte | lag in Schutt & Asche | doch dann sah ich | eine Feldblume | sich vor mir öffnen“. Und in einem der schönsten Gedichte dieses Bandes („Nachlese“) steht nüchtern und zugleich hoffend: „im Staubland jedoch | treibst du den Anker | bereit für einen Hafen | der nicht untergeht“. Ulrich Bergmann
Aktualisiert: 2023-05-30
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aus dem Gefährt das dir Träume auflädt.

aus dem Gefährt das dir Träume auflädt. von Hagemeyer,  Ines, PAPI, Pop,  Traian
Ines Hagemeyer, *Berlin 1938. Im gleichen Jahr Emigration nach Montevideo (Uruguay). Erste Rückkehr 1963-1965 München. Zweite Rückkehr und Heirat 1969 (Bonn). Zwei Kinder. Weitere Stationen: Quito, Buenos Aires, Madrid. Seit 1990 in Bonn. Fremdsprachenlehrerin. Theater- und Rundfunkerfahrung. Übersetzertätigkeit. Lyrikerin. Sprache ist für sie Heimat. Dem „Dichtungsring – Zeitschrift für Literatur“ seit den Anfängen verbunden. Redaktionsmitglied und Mitherausgeberin. Im POP-Verlag: Bewohnte Stille, Gedichte, 2007 und aus dem Gefährt das dir Träume auflädt, Gedichte, 2011.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Fragen im Schlepptau

Fragen im Schlepptau von Gałczyński,  Władysław, Hagemeyer,  Ines, Pop,  Traian
Kein Ankerplatz, nirgendwo Nachwort zu Ines Hagemeyer, Fragen im Schlepptau Nomen est omen – der Titel ihres neuen Gedichtbands sagt schon viel: Fragen im Schlepptau. Ines Hagemeyer legt der Öffentlichkeit nach fünf Jahren neue Gedichte vor, die um alte Themen kreisen. Es sind die Fragen, die sie – und die meisten von uns – ein Leben lang nicht loslassen, die wie angekettet an uns hängen, die zu ihr gehören, manche als Last und manche als Schatz. Es sind 8 mal 8 Gedichte, in denen es um Wahrheit und Wahrheiten geht, auch sie im Schlepptau eines langen Lebens. Schon das erste Gedicht („Gegenwelt“) wirft das Thema und die Forderung auf, sich der Tatsachen und Wahrheiten bewusst zu werden, denen wir ausgesetzt waren und immer noch sind in unserem Leben – Ines Hagemeyer nennt diese Vergangenheit „Gegenwelt“, dabei geht es auch um ihre ganz eigene Vergangenheit, die sie als Kind jüdischer Eltern erlitt: Fluchtartige Ausreise aus dem von Nationalsozialisten regierten Deutschen Reich gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Als Kleinkind verlässt sie mit ihren Eltern Berlin, fährt auf einem Ozeandampfer nach Uruguay und wächst in Montevideo auf. Auch dort erlebt sie eine Gegenwelt, wenn auch eine rettende, und zu ihrer Muttersprache gewinnt sie die spanische Sprache hinzu. Sie verlor ihre Heimat, bevor diese ihre Heimat werden konnte. Und ihre neue Heimat wird sie auch wieder verlieren – sie liebt einen deutschen Mann, sie heiratet ihn und kehrt, nach einigen Jahren in Spanien, nach Deutschland zurück und lebt nun schon seit Jahrzehnten in Bonn, als Ehefrau und Mutter blickt sie auf ein erfülltes Familienleben zurück. Es bleiben aber unheilbare Wunden, es klingt in anderen Gedichten dieses Bandes an, dass sie im Grunde keine Heimat hat wie die meisten von uns. Ihre wahre Heimat ist die Sprache, die deutsche und die spanische, sie wohnt in der Sprache als Übersetzerin und vor allem wohnt sie in ihrer Sprache als Dichterin. Das Gedicht „Absicht“ verurteilt die Verdrängung der deutschen Schuld nach dem Krieg: „Legendenteppiche für den Unrat ...“, die auch heute wieder verstärkt geknüpft werden. In „Eintrag“ heißt es: „heute herrscht der Tod | während das Leben | unter einer dicken Ascheschicht | kaum noch glimmt“ (nach Abraham Lewin, Warschauer Ghetto 1941). Sie denkt – in „Exildichter“ – an die vielen Künstler, Schriftsteller, Musiker im Exil, die ihre Karrieren verloren, die nach dem Krieg in Deutschland so gut wie vergessen wurden (etwa Erich Wolfgang Korngold). Die Balance von Last und Segen der Erinnerungen wird deutlich in dem Gedicht „Tetralogie“, wo von einem Lebenskreislauf die Rede ist, in „Fata Morgana“ wird das Trügerische der Erinnerungen angesprochen – und in einem anderen Gedicht folgt dafür ein Beispiel: wie sich das kleine Mädchen wie Effi Briest auf der Schaukel hoch hinauf schwang über die Bäume und sich ein „Leben über den Kronen“ erfand („früher II“). Dies sind – wie in vielen folgenden Gedichten – Verse, die nicht nur die eigenen biografischen Wurzeln widerspiegeln, sondern allgemeingültig sind. Es gibt funkelnde und schmerzende Lebenssplitter in jedem Menschenleben. Natürlich erleidet der eine mehr, der andere weniger. So auch in der Liebe. „in der Erinnerung bleiben | wird dein Blick | verloren in der Dämmerung“ („Oktober“). Oder „jenseits der Worte | lauert die Stille ... lass dir Zeit“ („nur“). Dann wieder die schmerzende Erinnerung: „mit der Muschel am Ohr | hör ich ein fernes Rauschen“ („Täuschung“) – es bleibt offen, ob es das Rauschen aus Europa ist oder aus Südamerika, beide Kontinente stehen für die Sehnsucht nach echter Heimat. In der Mitte des Bandes stehen Gedichte, die mit dem Schreiben zu tun haben, mit der schöpferischen Arbeit. „geh ans Ufer deiner Wünsche | fisch dir eine Utopie“, heißt es in dem Gedicht „geh“ – eine Gedankenexkursion in eine positive Gegenwelt. Aber Ines Hagemeyer will auch Verse wie scharfe Splitter – und die sollen „das Auge schärfen für | diese Abgründe der Seele“ (Introspektion III). „der Gesang der Amsel | lädt mich mit ihrem Ruf | zum Diktat ein“ („im Garten“). Die Natur als Meisterin? Das Gedicht „späte Replik“ spielt an auf Hölderlins Gedicht „An die jungen Dichter“: Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht,     Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegärt,        Bald zur Stille der Schönheit;           Seid nur fromm, wie der Grieche war!    Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen!     Haßt den Rausch, wie den Frost! lehrt, und beschreibet nicht!        Wenn der Meister euch ängstigt,           Fragt die große Natur um Rat. Ines Hagemeyer stellt fest, dass sie nicht mehr zu den jungen Dichtern gehört und hofft, „gereift zu sein“, dass auch kein Meister sie ängstigt. Nicht die Stille der Schönheit, sondern die Schönheit der Stille zog sie zu Hölderlins Dichtung hin. Rätselvoll ist ihr Gedichtschluss: & nun frag ich oft die Natur nach dem gewaltigen Rest Spielt das auf eine transzendente Zeit an? Oder klingt hier Kritik durch? Es ist die Frage, ob die Natur der größte Meister ist – angesichts der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Schließlich ist ja der Mensch Teil der Natur. Die Dichterin will die „Geheimnisse der Stille“, so an anderer Stelle in diesem Band, in Sprache verwandeln. Ein letztes Thema: Bilanz und Lebensvollendung. Ines Hagemeyer spricht in „Bilanz II“ von der Waagschale für so manche Frucht ihres oder auch unseres Lebens. Über das was nach dem Leben kommt, heißt es in dem Gedicht „Unbehagen“ lakonisch: „unheilvolles Land | aus dem niemand wiederkehrt | gibt uns Rätsel auf | bringt uns aber nicht weiter“ und das Gedicht „Vorhaben“ greift in diesem transzendenten Zusammenhang den Gedanken der Heimatsuche wieder auf: „ich suche noch eine Unterkunft | aus verwobenem Licht | mit Wänden aus Traum | & Erinnerung“ – solche Verse sind, aufs Leben bezogen, ernst gemeint. Die Gedichte gewinnen im gesamten Kontext an Kraft, sie verstärken sich gegenseitig. Sie sind in kurzen Versen formuliert, die Gedanken und Bilder erscheinen für sich genommen einfach, sie fächern sich, bezogen auf die angespielten Subtexte, subtil auf und werden so ziemlich komplex. Trotz der Mehrdeutigkeiten im Einzelnen sind es recht klare, schnörkellose Gedichte, die in die Tiefe wirken, in die Tiefe eines Menschenlebens wie in die Tiefen der Seele und der Geschichte. Das Ich in Ines Hagemeyers Gedichten findet keine Heimat, schon gar nicht im Tod, nur in der Sprache findet es ein Exil, allerdings sind immer „erneut Fragen im Schlepptau“ („El reexilio“). Und doch schreibt die Dichterin ein versöhnliches Resumee im letzten Gedicht („gestern“): „die Welt | wie sie sich zeigte | lag in Schutt & Asche | doch dann sah ich | eine Feldblume | sich vor mir öffnen“. Und in einem der schönsten Gedichte dieses Bandes („Nachlese“) steht nüchtern und zugleich hoffend: „im Staubland jedoch | treibst du den Anker | bereit für einen Hafen | der nicht untergeht“. Ulrich Bergmann
Aktualisiert: 2021-09-03
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Ines Hagemeyer Gedichte in der Literaturzeitschrift Dichtungsring 1984-2017

Ines Hagemeyer Gedichte in der Literaturzeitschrift Dichtungsring 1984-2017 von Hagemeyer,  Ines
Im Gedichtzyklus 1984-2017 von Ines Hagemeyer wird die Fremdheit zwei- und zwiesprachig gebannt. Es ist das ganze Leben, nicht nur ein erlebter Teil, nicht nur die politische Vergangenheit und der Tod, der Meister aus Deutschland, ist das Thema. Flucht: „aus der Wiege gespült | an einen weißen Strand ...“ und zweisprachige Kindheit: das familiäre Deutsch einerseits, Spanisch in Uruguay andererseits: „bezweifelte Einwurzelung“ (Rückblende). So wird die Sprache die eigentliche Heimat, obwohl auch immer wieder ein „Absturz der Worte“ (inhärent) droht – das Nichtbegreifenkönnen des erfahrenen Grauens. Nichts aber wäre das Leben ohne das Suchen nach Worten und Sätzen, um die eigene Existenz und die Fremde zu begreifen, die uns umgibt, und die „Erschütterung | die dich zwischen Tür & Angel | kalt erwischt hat“ ... „die ererbte Asche | aus heiterem Himmel“. Asche und Sand ... sind nicht zu tragen ohne Hoffnung: „die Last deiner Väter | gebeugt zu tragen | brauchst du nicht mehr“ (Vision II). Aber quälend vertraut bleiben die „langen Schatten der Mythen“ – und der eigene Tod am Ende des Lebens. Es liegt manchmal eine Melancholie in den Versen, deren Schönheit bedrohlich gleißt und in die Augen brennt. Schmerzende Wahrheit: homo homini lupus. Und doch – die Kindheit war „nicht nur Schatten und Alb“, es gab „bunte Blätter“ und duftende Erde (Herbst). Und es gibt die Poesie der Sprache! Im „Lied für Gitarre“ heißt es: „was das Gedicht sagt | wenn es schweigt | hüllt sich in Stille | ohne zu verstummen“. Also gibt es doch Hoffnung auf Sagbares und auf Verstehen, auf Übersetzung der Stille in Wissen und Antwort. In einem der schönsten Gedichte, „Lied für Madrid“, scheint das Leben hart und starr und leblos, und doch gibt es „in meinem Wald aus Stein benetzte Utopie weht sanft eine Brise trägt meine Haut ein Lied“. (aus dem Vorwort von Ulrich Bergmann)
Aktualisiert: 2020-02-15
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handverlesen von Hagemeyer,  Ines, PAPI
ÜBER SCHATTEN UND NEBEL Je tiefer ich in die hier versammelten Gedichte einsteige und sie begreife, umso mehr staune ich. Schon das erste Gedicht in dem Zyklus ist ein kleines Wunder. Die Vielschichtigkeit der Verständnisebenen ist enorm. Nach wenigen Gedichten merkt der Leser: Es geht um Lebensrückblick, Lebenssumme, Erinnerungen, Schmerz, Überwindung, Verdrängung, und all diese schweren Dinge. Der Titel des Buchs deutet es ja schon an: handverlesen. Selbstdeutung des eigenen Schicksals an handverlesenen Gedichten. Die schreibt die Hand im Hirn. In einem Gedicht gibt es die Formulierung: hinter der Nebelwand. Oder: hinter dem Nebel. Das wäre auch ein guter Titel für die Gedichte, die über ein lange gelebtes Leben reflektieren. Hier und da arbeiten Metrum und Rhythmus inhaltlich mit – oft da, wo sich Strenge oder Härte oder Wunden, Krämpfe oder Erstarrungen lösen, da wird auch das Metrum leichter. So im ersten Gedicht [irreal], das wie ein Schlüssel die Tür zum Verständnis des Ganzen aufschließt: fänd ich den Zauberweg
dahin
 zu dem der ich mal war
 trieb ich die Unrast aus
 wodurch ich eiligst wuchs verworfen hätt ich längst den Alp der sich in mir vergrub löste den Knoten der mich zum Schweigen zwang und würde sprechen Es ist das ganze Leben, nicht nur ein erlebter Teil, nicht nur die politische Vergangenheit und der Tod, der Meister aus Deutschland, ist das Thema ... Flucht: „aus der Wiege gespült | an einen weißen Strand ...“ und zweisprachige Kindheit: das familiäre Deutsch einerseits, Spanisch in Uruguay andererseits: „bezweifelte Einwurzelung“ (Rückblende). So wird die Sprache die eigentliche Heimat, obwohl auch immer wieder ein „Absturz der Worte“ (inhärent) droht – das Nichtbegreifenkönnen des erfahrenen Grauens. Nichts aber wäre das Leben ohne das Suchen nach Worten und Sätzen, um die eigene Existenz und die Fremde zu begreifen, die uns umgibt, und die „Erschütterung | die dich zwischen Tür & Angel | kalt erwischt hat“ ... „die ererbte Asche | aus heiterem Himmel“. Asche und Sand ... sind nicht zu tragen ohne Hoffnung: „die Last deiner Väter | gebeugt zu tragen | brauchst du nicht mehr“ (Vision II). Aber quälend vertraut bleiben die „langen Schatten der Mythen“ - und der eigene Tod am Ende des Lebens. Alle Tiefen, die das Leben bietet, sind in den Gedichten verhandelt, auch das Leben anderer, nicht nur das eigene Ich. Zum Trotz gegen alle Unsicherheit des Lebens träumt sich das Ich aus der Welt „an erfundene Orte“ (festgestellt) und in die Sprache und die lyrischen Bilder der Gedichte, das rettet zuweilen. Dann wieder Zweifel: „was glauben wir | den Traumfiguren“ angesichts der Gefahr, die „tags im Dunkeln schlummert“? Es liegt eine Melancholie in den Versen, deren Schönheit bedrohlich gleißt und in die Augen brennt. Schmerzende Wahrheit: homo homini lupus. Und doch – die Kindheit war „nicht nur Schatten und Alb“, es gab „bunte Blätter“ und duftende Erde (Herbst). Und es gibt die Poesie der Sprache! Im „Lied für Gitarre“ heißt es: „was das Gedicht sagt | wenn es schweigt | hüllt sich in Stille | ohne zu verstummen“. Also gibt es doch Hoffnung auf Sagbares und auf Verstehen, auf Übersetzung der Stille in Wissen und Antwort. In einem der schönsten Gedichte, „Lied für Madrid“, scheint das Leben hart und starr und leblos, und doch gibt es in meinem Wald aus Stein benetzte Utopie weht sanft eine Brise trägt meine Haut ein Lied Die Gedichte sind prägnant strukturiert und oft wirkungsvoll pointiert. In ihrer zyklischen Einheit verstärken sich die Gedichte noch. Es geht um die großen Fragen im Leben: wie kann ich überhaupt etwas erkennen, warum lebe ich, was bedeuten meine Träume, was bedeuten die Schatten in meinem Herzen, in meinem Gehirn, in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meiner Erinnerung ... Auch das Schreiben und die Literatur ist ein Thema in den Gedichten. Die Poesie ist ein Erkenntnismittel. Sie hilft, mit dem Leben konstruktiv fertig zu werden oder es wenigstens auszuhalten. Ja, manchmal erschaffen die Worte das Leben, oder sie machen es farbiger, wertvoller. Keine fragwürdige Verdrängung ist gemeint, sondern Bewusstwerdung in der Schönheit von Form und Bild, also der Wahrheit, so gut sie der Schreibende und der Lesende zu verstehen vermag. Noch wichtiger als Schreiben und Lesen ist die tätige Poesie der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie kann, sie soll auch zur großen sozialen Liebe für alle werden. Politik als Poesie! (So sieht es der Philosoph Richard Rorty.) Mit der Liebe im Kleinen müssen wir beginnen. Sie rettet uns als Einzelne, trotz aller Schwierigkeiten und allen Scheiterns. Voraussetzungen für ein gelingendes Leben: bleib schweigsam mit dir | im Einklang [Imperativ] und genieße | das Ende dieser Verse [wenn] auf dem Steg zum Du | Gratwanderung | Grenzwall & Graben | wo das Schweigen gebrochen wird [Werdung] Sanft deutet das ein und andere Gedicht auf die Möglichkeit einer besseren Welt hin: „Gewehre krümmen sich ... Ophelia steigt aus dem Wasser ... & fällt mir in die Arme“. Deswegen gilt: brich dein Schweigen wirf ein Wort in den Ring und bring dich in Stellung Und der eigene Tod? In den letzten Gedichten taucht die Nähe des Todes auf. Er kann nur überdauert werden durch das Werk, durch das Geschriebene, durch die Verse, die Gedichte, die Gedanken, die Ideen ... vielleicht auch durch die Liebe, die einem anderen gegeben wird, die nun weiter wirkt im anderen. Oder ... wenns zu weit kommt, so heißt es augenzwinkernd & meditierend wird der Tag kommen an dem hinter dem Wort Wärme & Brise mich heimlich davontragen & wenns zu weit kommt werd ich das Schweigen übersetzen Dieser Zyklus ergreift mich. Ich bin überzeugt: handverlesen kann in einem Atemzug genannt werden mit der Poesie von Nelly Sachs. Alles gelingt so großartig in den Bildern, in der Sprache, in den Gedanken! Ulrich Bergmann Venedig, Juni 2015
Aktualisiert: 2021-07-27
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