Anatomie des Alltags
Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki
Sebastian Breu
Hirata Oriza und Okada Toshiki – zwei Regisseure, deren Einflüsse aus dem japanischen Gegenwartstheater nicht mehr wegzudenken sind. Der vorliegende Band versucht über reziproke Beleuchtung von Schauspieltheorie und Stückanalysen den theoretischen Kern ihrer Theaterästhetik herauszuarbeiten: die Frage, ob/wie realistisches Theater in einer zunehmend komplexen und undurchsichtigen Gesellschaft noch möglich ist. Eine kritische Lektüre von Hiratas Essayband Für ein Theater der zeitgenössischen Umgangssprache zeigt, welche historischen Voraussetzungen und welche theoretischen Entscheidungen die Stücke der beiden Regisseure strukturieren. Im kontemplativen Sprechtheater, das Hirata in Noten aus Tokyo entwickelt, und in der Dramaturgie der Nebensächlichkeiten, die Okadas Frühwerk Fünf Tage im März kennzeichnet, wird die Formtradition des dramatischen Theaters – das Versprechen nach Handlung und Kohärenz – suspendiert, um den ästhetischen Eigenheiten von Körper und Sprache gestalterischen Freiraum zu schaffen. Realistisch ist jetzt nicht mehr, was dem Theater das Kostüm der Wahrheit überstreift, sondern was die Anatomie des Alltags beherrscht: die Unzugänglichkeit von Bewusstsein, die logische Un-ordnung der Zeichen, die „Fehlerhaftigkeit“ sprachlicher Kommunikation und die Unschärfe von Sinn.