Auf-Brüche
Interviews über Werte und Wertewandel im Rückblick auf die nationalsozialistische Zeit
Almuth Sellschopp, Beatrix Vogel
Dieses Buch versucht, auf psychohistorischem Weg zum Verständnis der heutigen Situation in Deutschland beizutragen. Die Situation ist von einem Bewusstsein eines zunehmenden Wertevakuums geprägt. Dies ist abzulesen an der Art der öffentlichen Diskussion des Ost-West-Disputs, des Fremdenhasses oder der wiederauftauchenden Elemente des Nationalsozialismus, in der Zunahme an psychotherapeutischer Hilfsbedürftigkeit oder in Problemen der medizinischen Ethik. Überall finden sich Anzeichen eines Verlusts an verbindlichen Werten, der von vielen Menschen als bedrohlich erlebt wird. Die Autorinnen suchen nach den Voraussetzungen der heutigen Wertekrise. Sie befragten Menschen, die ihre Adoleszenz im Dritten Reich erlebt haben, in einer Zeit, die vom Bewusstsein des Aufschwungs von für deutsch ausgegebenen Werten geprägt war. Die 60 Befragten sind vor 1930 in den Grenzen des damaligen Deutschlands geboren. Den 13 hier ausgewählten Interviews vorangeschickt wird eine differenzierte Aufbereitung der damaligen und heutigen Werteproblematik. Die Autorinnen befassen sich dabei ausführlicher mit der Frage, wie ein Wandel im Wertebezug überhaupt erfassbar ist. Bei der Auswertung verzichten sie bewusst auf die Anwendung statistischer Methoden zugunsten eines biographischen Ansatzes, der den Einzelnen in seiner Bewertung des eigenen Lebenslaufes zu Wort kommen lässt. Dennoch zeichnen sich Hypothesen ab, die mit Bezug auf die Interviews erste vorsichtige Verallgemeinerungen zulassen. Die Interviewpartner richten die Erzählung ihrer Lebensgeschichte häufig an die Nachwelt, an ihre Kinder. Mit ihnen konnte ein Diskurs wegen der im Raume stehenden Schuldfrage in Bezug auf den Nationalsozialismus bisher gar nicht erst aufgenommen werden, oder er ist abgebrochen. Mit der Darstellung ihres Lebenskontextes bieten die Interviewten jetzt die Möglichkeit an, diese Frage neu zu stellen und am Lebensverlauf selbst zu beantworten. Die Interviews verdeutlichen, wie neben Enttäuschung und Lebensbrüchen, neben Schuld- und Schamerleben fast immer das Gefühl geblieben ist, etwas Unumstößliches erlebt zu haben. Die besonders drängende Frage, wie die damals von vielen Menschen bis zur Aufgabe der Existenz gelebte Wertetradition heute noch gültig sein könnte, kann sicher nicht auf der inhaltlichen Ebene veränderter einzelner Werte beantwortet werden. Die Autorinnen stellen deutlich heraus, wie sich unser Bezug zu Werten seit der damaligen Zeit verändert hat. Sie versuchen, das öffentliche Gespräch darüber neu zu eröffnen. Die Untersuchung wurde von der Köhler-Stiftung, Darmstadt, finanziell gefördert.