August Hermann Francke über den Streit mit Christian Wolff
Die paränetische Vorlesung vom 18. November 1723
Borchers Stefan
Im Herbst 1723 wurde Christian Wolff (1679–1754) per Edikt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) des Landes verwiesen. Damit hatte ein mehrere Jahre zwischen Wolff und der theologischen Fakultät der Universität Halle schwelender Konflikt seinen Höhepunkt erreicht. Allerdings überraschte die Drastik des Ediktes alle Beteiligten – Wolff habe »bey Stafe des Stranges« binnen 48 Stunden Preußen zu verlassen – und brachte die Theologen unter Rechtfertigungsdruck.
Auf diesen Druck reagierte August Hermann Francke (1633–1727) in seiner nur fünf Tage nach der Flucht von Wolff gehaltenen paränetischen Vorlesung. In der Regel dienten diese wöchentlich abgehaltenen Vorlesungen zur Erteilung von Ratschläge und Mahnungen rund um die Studienor-ganisation, zur ›wahren‹ Bekehrung und zur Lebensführung. Hinzu kam die Auslegung und An-wendung von Bibelstellen und theologischen Schriften. Aber neben diesem festen Repertoire nutzte Francke diese Veranstaltung auch immer wieder für tagesaktuelle Themen. Und so behandelte er am 18. November alleinig den Konflikt um Wolff in seiner Vorlesung. Er stellte das Handeln der Fakultät als Beispiel dafür dar, wie die Studenten sich künftig in ihrem geistlichen Amt bei auf-kommenden Konflikten verhalten sollten, nämlich passiv und allein dem göttlichen Fingerzeig fol-gend, denn er deutete die Vertreibung des Philosophen als sichtbares Zeichen des göttlichen Wil-lens. Dabei ist es Francke gelungen, die ganze Vorlesung über die Causa Wolff zu halten, ohne dessen Namen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Aber schließlich wusste ja jeder Anwe-sende, was »in dieser Woche […] besonders vorgegangen« war.