BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010
Beiträge und Analysen
Nicole Osterkamp, Uwe Repschläger, Claudia Schulte
Das Gesundheitswesen und mit ihm die Gesetzliche Krankenversicherung bleibt in Bewegung. In den letzten Jahrzehnten jagte eine Reform die nächste und auch aktuell steht wieder eine Reform auf der Finanzierungsseite vor der Tür. Was sie bringen wird, ist unklar; selbst die Regierungskoalition ist sich nicht einig. Dabei ist der Finanzdruck in der GKV enorm. In Zeiten von Zusatzbeiträgen stehen die Krankenkassen unter immensem Druck. Aus Angst vor drohenden Mitgliederverlusten werden Zusatzbeiträge oftmals erst spät – in einzelnen Fällen zu spät – erhoben. Für das Jahr 2011 liegen die Defizitschätzungen zwischen 10 und 15 Milliarden Euro. Mit der bestehenden Belastungsgrenze, die Zusatzbeiträge auf ein Prozent des Einkommens begrenzt, sind diese Beträge nicht finanzierbar. Ohne Eingreifen der Politik kann es hier zum Systemkollaps kommen. Erste Kasseninsolvenzen machen die Runde, und sie drohen weitere durch die neuen Haftungsregelungen nach sich zu ziehen. Die zwingend erforderlichen Frühwarnsysteme sind noch in der Entwicklungsphase und scheitern oft an den unterschiedlichen Ansprüchen der Beteiligten. Sie sind jedoch eine notwendige Voraussetzung für funktionierende Haftungsgemeinschaften. Eine Reform der Finanzierungsseite allein wird das System nicht langfristig stabilisieren können. Auch die Ausgabenseite muss reformiert werden. Die Ansätze im Arzneimittelbereich zeigen in die richtige Richtung. Sie müssen jedoch schnell ihre Wirkung entfalten und es ist zwingend erforderlich, dass es keine Umgehungsstrategien für die Pharmaindustrie gibt. Die Einsparungen im Arzneimittelsektor allein werden nicht ausreichen, um das geschätzte Defizit zu decken. In Zeiten eines gewaltigen Sparprogramms des Bundes zur Bewältigung der Schuldenkrise werden neben der Pharmaindustrie auch alle anderen Beteiligten mit Einschnitten rechnen müssen. Die Zeiten überhöhter Forderungen sind vorbei. Mit unserer dritten Ausgabe greifen wir erneut aktuelle Themen auf. Die Gliederung erfolgt in die bewährten Themenbereiche „Systemfragen und Wettbewerb“ und „Gestaltung der Versorgung“. In beiden Teilbereichen kommen sowohl BARMER GEK-interne Autoren als auch Autoren von unterschiedlichen Institutionen im Gesundheitswesen zu Wort. In diesem Jahr liegt ein Schwerpunkt im Bereich Systemfragen und Wettbewerb auf der Kosten-Nutzen-Bewertung, die in den Beiträgen von Mathias Kifmann (Lehrstuhl für Finanzwissenschaft und soziale Sicherung Universität Augsburg) sowie von Andreas Gerber und Klaus Koch (Institut für Qualität im Gesundheitswesen – IQWiG) thematisiert wird. Während Mathias Kifmann die Bedeutung der Kosten-Nutzen-Bewertung für die Preisregulierung von patentgeschützten Arzneimitteln untersucht, zeigen Andreas Gerber und Klaus Koch auf, warum das international diskutierte QALY-Konzept in der Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland aus ihrer Sicht nicht eingesetzt werden sollte. Um die Kostenentwicklung insbesondere bei den patentgeschützten Arzneimitteln einzudämmen, wird der Kosten-Nutzen-Bewertung aus Sicht der BARMER GEK eine hohe Bedeutung zukommen. Die konkrete weitere Ausgestaltung nach dem Führungswechsel im IQWiG werden wir mit Spannung beobachten. Im Beitrag von Ingolf Berger (Institut des Bewertungsausschusses) geht es um den Entstehungsprozess der ambulanten Kodierrichtlinien, die zum 1. Januar 2011 verbindlich eingeführt werden. Frank Schulze Ehring (Wissenschaftliches Institut der PKV – WIP) blickt in seinem Beitrag ins Nachbarland Niederlande, um zu untersuchen, ob das niederländische Modell Vorbild für eine Reform der Krankenversicherung in Deutschland sein kann. Der Beitrag von Falk König, Patrick Florath, Uwe Repschläger (alle BARMER GEK) und Frank Romeike (RiskNET) zum Thema Frühwarnsysteme in der GKV zeigt auf, wie wichtig eine frühzeitige Risikoidentifikation im Zuge neuer Haftungs- und Insolvenzregelungen in der GKV ist – die aktuellen Ereignisse geben ihnen recht. Der Beitrag zeigt insbesondere die schwierige Gratwanderung zwischen den Interessen potenziell haftender Kassen und denen, die bereits ins Straucheln geraten sind. Hier gilt es, klare Regelungen zu treffen, um die Funktionsfähigkeit eines Frühwarnsystems zu gewährleisten. Eine zukunftsfähige Verbändelandschaft steht im Mittelpunkt des Artikels von Uwe Repschläger (BARMER GEK). Welche Aufgaben kann der GKV-Spitzenverband in einem zunehmend wettbewerblich geprägten Umfeld übernehmen und wo sind die Spitzenverbände der Kassenarten weiter gefordert? Claudia Schulte (BARMER GEK) untersucht, ob sich die Verteilungsgerechtigkeit im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich durch eine bessere Berücksichtigung von Multimorbidität steigern lässt. Mit Hilfe von Interaktionstermen, die in den USA bereits zum Standard gehören, lässt sich hier durchaus eine Verbesserung erkennen. Im Themenbereich Gestaltung der Versorgung liegt der Schwerpunkt auf der ambulanten Versorgung. Zunächst kommt hier Andreas Köhler (Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung – KBV) zu Wort, der über die Problematik von nebeneinander bestehenden Kollektiv- und Selektivverträgen insbesondere auch im Bezug auf die Bereinigung der ärztlichen Vergütung berichtet. Antje Schwinger und Hans-Dieter Nolting vom IGES Institut erarbeiten – ausgehend vom bestehenden Bereinigungsverfahren –, wie ein Bereinigungsverfahren idealerweise aussehen müsste, um allen gerecht zu werden. Boris von Maydell, Thilo Kosack, Uwe Repschläger, Christoph Sievers und Rebecca Zeljar (alle BARMER GEK) greifen das große Medieninteresse an den „18 Arztkontakten“ des BARMER GEK Arztreports auf. Weitere Analysen bestätigen diese Durchschnittszahl und zeigen die Verteilung der Arztkontakte nach Alter, Geschlecht, bestimmten Ereignissen und Krankheiten auf, um so einen besseren Vergleich für einen „gesunden Durchschnittsversicherten“ zu ermöglichen. Detlef Böhler und Karl-Heinz Neumann (beide BARMER GEK) stellen die Besonderheiten auf dem Arzneimittelmarkt in den Fokus ihres Beitrags und fordern für eine künftige Reform, die bestehenden Steuerungsansätze besser aufeinander abzustimmen. Das auch in medizinischen Expertenkreisen als chronische Schmerzkrankheit umstrittene Fibromyalgiesyndrom wird von Ursula Marschall und Andreas Wolik (beide BARMER GEK) anhand empirischer Analysen untersucht. Hierbei wird besonders die Versorgungsrealität mit den evidenzbasierten Vorgaben der neuen S3-Leitlinie abgeglichen. Nicht minder kontrovers wird das Thema „Adipositaschirurgie“ zwischen Patienten, Ärzten und Krankenkassen diskutiert. Im Artikel von Hans Hauner (TU München), Ursula Marschall, Michael Lex, Andreas Wolik und Henrik Schwandrau (alle BARMER GEK) werden die medizinischwissenschaftlichen Aspekte ebenso wie die leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen beleuchtet. Thilo Kosack und Andreas Wolik (beide BARMER GEK) untersuchen, ob die relativ neue Methode der Entscheidungswälder bei der Ermittlung von besonders geeigneten Patienten für Versorgungsprogramme Verbesserungen gegenüber gängigen statistischen Verfahren bietet.