Das einheitliche digitale Werkexemplar
Bezugsobjekt der „körperlichen“ Verwertungsrechte und weiterer urheberrechtlicher Bestimmungen im digitalen Kontext
Hannes Reccius
Spätestens seit der UsedSoft-Entscheidung des EuGH im Jahr 2012 wurde in der urheberrechtlichen Literatur und Praxis in Deutschland wie in Europa gestritten, ob sich das Verbreitungsrecht an digitalen Werkkopien erschöpfen könne, die im Wege der Online-Übertragung erstellt wurden. Nach neueren Entscheidungen des Gerichtshofs, etwa in Sachen Tom Kabinet Ende 2019, wurde die Diskussion abermals aufgegriffen und fortgeführt.
Mit dieser Fragestellung allein wird allerdings die Problematik rund um den Vertrieb und die Nutzung von digitalen Werkexemplaren nur unzureichend erfasst. Zum einen stellt sich bereits die Frage, ob das Verbreitungsrecht – nach der herkömmlichen Einordnung ein Recht zur körperlichen Verwertung des Werkes – die Übertragung digitaler Inhalte auf unkörperlichem Wege, bspw. per Download von einem Server, überhaupt erfassen kann und wie es dann vom Recht der öffentlichen Zugänglichmachung abzugrenzen ist. Dazu erschweren weitere, häufig technisch bedingte, Unterschiede im Vergleich zur analogen Werknutzung eine rechtssichere Einordnung digitaler Verwertungshandlungen und Nutzungsvorgänge. Die im analogen Umfeld noch klaren Grenzen zwischen körperlicher und unkörperlicher Werknutzung scheinen zu verwischen.
Vor diesem Hintergrund analysiert der Verfasser die in Bezug auf verschiedene urheberrechtliche Richtlinien ergangene Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung digitaler Werkkopien. Ausgehend von den Grundüberzeugungen des Gerichts sowie der historischen Bedeutung der Verwertungsrechte entwickelt der Verfasser ein funktionales Verständnis vom Begriff der Vervielfältigung und des Vervielfältigungsstücks.
Dadurch wird es ermöglicht, auch im digitalen Umfeld die „körperlichen“ Verwertungsrechte sowie weitere am „Vervielfältigungsstück“ anknüpfende urheberrechtliche Normen entsprechend ihrer ursprünglichen Bedeutung für die Werkverwertung anzuwenden. Auf diesem Weg soll eine Gleichbehandlung analoger und digitaler Werknutzungsformen erreicht werden, ohne dass die berechtigten Verwertungsinteressen der Urheber oder die Nutzungsbefugnisse der Kulturverbraucher eingeschränkt werden.