Demokratisierung der Wahrnehmung?
Das westeuropäische Nachkriegskino
Bernhard Gross, Daniel Illger, Hermann Kappelhoff
Das westeuropäische Nachkriegskino stellt bis heute einen wichtigen Bezugspunkt filmhistorischer und kulturtheoretischer Debatten dar. Es stand im Zeichen der Erneuerung des Kinos – war das Medium doch durch seine Indienstnahme durch den Faschismus und in den Propagandaschlachten des Zweiten Weltkriegs in Verruf geraten. Die Idee eines ästhetisch wie politisch integeren Kinos schien verwirklicht im italienischen Neorealismus, der bald eine Vorbildfunktion für die Entwicklung von realistischen Filmpoetiken in den anderen Ländern einnahm.
So ließe sich eine gängige Lesart des westeuropäischen Nachkriegskinos zusammenfassen. Doch aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob unter dem Gewicht der filmhistoriografischen Zuschreibungen nicht vieles verschüttet bleibt, was dieses Kino tatsächlich auszeichnete. Das gilt für einzelne Wertungen wie die Geringschätzung des deutschen Trümmerfilms, der an dem gescheitert sei, was der Neorealismus vollbracht habe. Es gilt auch für die grundsätzliche Frage nach der Ausrichtung der westeuropäischen Nachkriegskinematografie – sind da nicht Risse zu entdecken, die etwa den Primat des Realismus oder die Gegenüberstellung von ‚aufgeklärtem‘ Autorenkino und ‚rückschrittlichen‘ Genreproduktionen zweifelhaft werden lassen?
Der vorliegende Band widmet sich diesen Fragen in Bezug auf den deutschen Trümmerfilm – mit einem Exkurs ins DEFA-Kino der fünfziger Jahre –, auf die österreichische Nachkriegsavantgarde, die italienischen Neorealismen zwischen 1945 und 1960, wie auch auf das französische und britische Kino nach 1945. Die Beiträge beziehen sich auf einschlägige historiografische Positionen und konfrontieren sie mit dem ästhetischen Potential einzelner Filme, um in diesem Spannungsverhältnis neue Perspektiven auf das westeuropäische Nachkriegskino aufzuzeigen.