Der liber singularis responsorum des Ulpius Marcellus.
Carsten Zülch
Der Autor setzt die »Freiburger Reihe« textkritischer Werkuntersuchungen fort. Gegenstand ist der »liber singularis responsorum« des Ulpius Marcellus, der seine Werke in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts und damit zur Zeit der Hochblüte der klassischen römischen Jurisprudenz verfaßte. Viele Juristen der klassischen Epoche haben »libri responsorum« geschrieben, in denen einzelne Rechtsfälle und ihre Entscheidung dargestellt sind. Der »liber singularis responsorum« des Marcellus zeichnet sich durch eine ungewöhnliche, fast stereotype Gleichförmigkeit der formalen Darstellung aus.
Der überschaubare Umfang des Werks erlaubt es, sämtliche überlieferten Fragmente im Werkzusammenhang zu untersuchen und sie darüber hinaus mit Texten aus dem Hauptwerk des Marcellus, den »digesta«, zu vergleichen. Mittel der Untersuchung ist die Exegese der Fragmente unter juristischen und philologischen Gesichtspunkten. Sie ergibt folgende Überlieferungsgeschichte: Der »liber singularis responsorum« wurde Anfang des vierten Jahrhunderts, möglicherweise im Rahmen einer Neuausgabe, mit einem Notenapparat versehen, der sowohl der Erläuterung wie der Einarbeitung juristischer Neuerungen diente. Die Noten wurden durchweg am Schluß der Fragmente angefügt; der vorangehende ursprüngliche Text blieb unberührt. Bei der späteren Übernahme in die Digesten Justinians haben die Fragmente nur wenige Veränderungen erfahren.
Das Originalwerk des Marcellus enthielt ausschließlich wirkliche Rechtsfälle unterschiedlicher Schwierigkeit aus der Gutachterpraxis des Juristen; anders als die »digesta« verfolgte es keine akademischen Zwecke. Offenbar handelte es sich um ein Nachschlagewerk für den juristischen Praktiker. Die behandelten Rechtsfälle, die mehrheitlich aus dem Erbrecht, aber auch aus zahlreichen anderen Gebieten des Privatrechts stammen, bieten deshalb auch einen instruktiven Einblick in die Rechtswirklichkeit des Prinzipats.