Autoren Biografie
Zwei Jahrzehnte hatte Charles Darwin jetzt schon an seiner Idee der natürlichen Zuchtwahl gefeilt, als er im Sommer 1858 aus dem malayischen Archipel ein Manuskript zugesandt bekam, in dem mit etwa 4000 Worten ihr Inhalt knapp und klar formuliert war. Darwin reagierte mit Erstaunen, Verzweiflung und leichter Panik, hatte hier doch sein Bekannter Alfred Russel Wallace eine ähnliche Idee wie er selbst und drohte, ihm mit einer Veröffentlichung zuvorzukommen. -- Wallace (1823--1913) wurde in bescheidenen Verhältnissen als achtes Kind von Thomas Vere Wallace und Mary Anne Greenell in Usk, einer kleinen Stadt im Südosten von Wales, geboren. Er besuchte das Gymnasium und arbeitete dann bei seinem Bruder William, einem Landvermesser. Er verbrachte viel Zeit in der Stadtbibliothek, wo er zum Beispiel Bücher von Thomas Malthus las -- und Henry Bates kennenlernte, einen begeisterten Insektensammler, der ihn mit seiner Leidenschaft bald ansteckte. -- Inspiriert durch die Reiseberichte von Darwin und Alexander von Humboldt wollte auch er als Naturforscher ins Ausland reisen. Gemeinsam mit Bates plante er eine große Sammelexpedition in den Tropen, hauptsächlich, um mit dem Verkauf exotischer Präparate an Museen und private Kabinette Geld zu verdienen. 1848 traten die beiden ihre Expedition nach Brasilien an, dort reisten sie oft getrennt, trafen sich aber sporadisch, um ihre Funde zu diskutieren. -- 1852 fuhr Wallace zurück nach England. Nach vier Wochen auf See fing die Ladung aus Balsam und Kautschuk Feuer, die Besatzung war gezwungen, das Schiff zu verlassen und verbrachte zehn Tage in einem offenen Boot, bevor sie gerettet wurde. Die ganze Sammlung von Wallace ging so verloren und er konnte nur einen Teil seines Tagebuches und einige Zeichnungen retten. Wieder in England angekommen, lebte er erst einmal von der Versicherung, die sein Agent für ihn abgeschlossen hatte. Er veröffentlichte -- weitgehend unbeachtet -- sechs Artikel und zwei Bücher über seine Forschungen und nahm Kontakt zu anderen Naturwissenschaftlern auf. -- Bald schon reifte der Plan zu einer neuen Expedition: Der malayische Archipel war noch weitgehend unbekannt und erschien als kommerziell und wissenschaftlich lukrativstes Ziel. Bereits Anfang 1854 brach Wallace wieder auf und legte bis 1862 etwa 20000 km zurück. Die gigantische Sammlung, die er dabei anlegte (über 125000 Exemplare), umfasste u.a. mehr Vogelbälge und Insekten, als sich damals in den meisten Naturkundemuseen befanden, und liefert bis heute Material für unzählige Forschungsarbeiten. -- Auf den Aru-Inseln begann Wallace zu verstehen, wie neue Arten entstehen. Dank seiner Feldforschungen wusste er inzwischen, dass viele Tierarten geographische Varietäten ausbilden. Bei einem fiebrigen Anfall kam ihm jetzt die Idee seines Lebens: Dieses Abweichen von der Norm muss sich auf das Überleben auswirken. Wenn sich die Lebensbedingungen ändern, könnte eine Varietät besser als andere an die geänderten Verhältnisse angepasst sein, dadurch länger überleben und mehr Nachkommen haben. Generation für Generation käme es so zu einer Transmutation der Arten -- zur Evolution. Seine Erkenntnisse fasste er binnen drei Tagen in einem Aufsatz zusammen und schickte diesen an Darwin mit der Bitte, seine Ideen zu prüfen und gegebenenfalls an Sir Charles Lyell weiterzuleiten. -- Kernsätze aus dem Papier, das Darwin so aufschreckte, konnten, wie er selbst sagte, gut als Kapitelüberschriften seines eigenen Werkes dienen. Einigen Wissenschaftshistorikern zufolge war Wallaces "Theorie der Divergenz" genau der Baustein, der Darwin zur Veröffentlichung noch fehlte, und erst die Informationen, die Wallace ihm gutgläubig überließ, ermöglichten ihm, seine Theorie der Entstehung der Arten zu vollenden. Andererseits war für den längst nicht so gut vernetzten Wallace nur durch Darwins Unterstützung ein wissenschaftlicher Erfolg möglich, und er hat nie die kleinste Verärgerung darüber gezeigt, nur "der Zweite" geworden zu sein. Er blieb Darwin bis zu dessen Tode eng verbunden -- im Wortsinne, denn als Darwin 1882 stirbt, ist Wallace einer der Sargträger. -- Lyell und Joseph Dalton Hooker fanden eine trickreiche Lösung, ihrem Freund Darwin die Priorität zu sichern, ohne die Erkenntnisse von Wallace zu verschweigen: Die jetzt hastig von Darwin zusammengestellten Papiere wurden gemeinsam mit dem Aufsatz von Wallace auf einer Sitzung der Linnean Society vorgetragen, in Abwesenheit beider Autoren. Die Resonanz war mäßig, das Verständnis der revolutionären Ideen folgte erst ein Jahr später, nach der Veröffentlichung von Darwins Buch "Origin of Species". -- Wallace hat diese Abmachung im Nachhinein akzeptiert und war glücklich, dass er überhaupt berücksichtigt worden war. Der soziale und wissenschaftliche Status von Darwin war weitaus höher, und nur durch die gemeinsame Vorlesung ihrer Schriften wurde er mit dem bekannteren Darwin assoziiert. Das, zusammen mit der Unterstützung durch Darwin, Hooker und Lyell, verschaffte Wallace Zugang zu den höchsten Kreisen der wissenschaftlichen Gemeinschaft. -- Nach der Rückkehr sortierte Wallace seine Sammlungen und hielt zahlreiche Vorträge über seine Abenteuer und Entdeckungen. Während der Zeit auf dem malayischen Archipel hatte ihm der Verkauf seltener Exemplare eine beträchtliche Summe Geld eingebracht. Durch Fehlspekulationen verlor er jedoch schnell das meiste davon wieder und Darwin kämpfte lang und hart, um ihm eine Regierungspension für seine wissenschaftlichen Dienste zu beschaffen. -- Wallace war radikaler Sozialist und engagierte sich für sozio-ökonomische Reformen. Er beteiligte sich an der Diskussion über Handelsgrundsätze und Landreform, interessierte sich für Spiritualismus, unterstützte das Frauenwahlrecht und warnte vor Militarismus. Auch wissenschaftlich blieb er produktiv, mit "The Geographical Distribution of Animals" schrieb er eines der Standardwerke der Biogeographie und in "Island Life" untersuchte er die Verteilung von Pflanzen- und Tierarten auf Inseln. Alfred Russel Wallace starb am 7. November 1913 neunzigjährig in seinem Landhaus Old Orchard (alter Obstgarten). -- Seine Reisebeschreibung "The Malay Archipelago" wurde eines der populärsten wissenschaftlichen Werke des 19. Jahrhunderts.