Die Bedeutung der Südmandschurischen Eisenbahn und die wirtschaftlichen Auswirkungen der japanischen Industrialisierung der chinesischen Nordostprovinzen
Stephan Kock
Die Mandschurei, oder Chinas drei Nordostprovinzen, war ein 1,2 Mio. km² großes Gebiet auf dem asiatischen Festlandssockel, das von der Mongolei, Sibirien, der koreanischen Halbinsel und der Gelben See begrenzt wurde. Die Mandschurei war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges der zentrale Faktor für die Beziehungen zwischen China und Japan sowie für das geostrategische Gleichgewicht ganz Asiens. Ab 1895 – nach dem sino-japanischen Krieg – kam es in ganz China zu einem Wettlauf zwischen den Kolonialmächten beim Bau von Eisenbahnlinien. Das kaiserliche Japan konnte sich erst 1905 einen festen Halt auf dem asiatischen Festland mit einem Sieg über das russische Zarenreich erkämpfen. Mit dem Frieden von Portsmouth übernahm Japan auch einen Teil der russischen Eisenbahnkonzessionen und gründete 1907 die Südmandschurische Eisenbahn (SMR). Mittels der privatrechtlich auftretenden SMR verfolgte Japan die Durchdringung der Mandschurei, die zur japanischen Interessenssphäre wurde. Der geschickte Ausbau der Infrastruktur führte zu einer stärkeren wirtschaftlichen Position und damit insbesondere zu militärischer Macht. Hierdurch gelang es Japan unbemerkt, die Abspaltung der Mandschurei von China vorzubereiten. 1931 führte der Mukden- Zwischenfall zur Ausrufung der Republik Mandschukuo, einem japanischen Satellitenstaat, der bald zum Kaiserreich unter Führung des letzten chinesischen Kaisers, Henry Puyi, wurde. Tatsächlich herrschte jedoch der Generalstab der japanischen Kwantung-Armee. Zur Sicherung Mandschukuos wurde das Eisenbahnnetz weiter stark ausgeb. Gleichzeitig wurde eine breit angelegte Industrialisierung vorangetrieben. Mandschukuos Industrien sollten zum Herzstück eines japanisch geführten, großasiatischen Wirtschaftsraumes werden. 1937 brach der sino-japanische Krieg aus, 1941 kam es zum Überfall auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA. 1945 besetzten sowjetische Truppen die Mandschurei. Das Bestehen Mandschukuos endete mit der japanischen Kapitulation am 2. September. In diesem Buch wird auf das Verhältnis von Infrastruktur und politischer Macht eingegangen sowie gezeigt, warum nur eine Eisenbahngesellschaft zur Durchsetzung der japanischen Interessen geeignet war. Außerdem wird deutlich, weshalb weder China noch die anderen Weltmächte in der Lage waren, eine Machtbalance in der Region zu erhalten. Dabei wird auch die strukturelle Schwäche internationaler Organisationen deutlich. Vor diesem Hintergrund wird die wirtschaftliche Entwicklung der Mandschurei analysiert. Dabei ist der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf den Zusammenhang von Infrastruktur und Wirtschaftswachstum gelegt. Erstmals wird der sensiblen Frage nachgegangen, ob die japanische Investitionen durch entsprechende Entnahmen kompensiert wurden. Außerdem wird im Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen berücksichtigt, dass es während der sowjetischen Besatzungszeit der chinesischen Nordprovinzen zu Zerstörungen und Demontagen des errichteten Industriepotentials kam. Aufgrund einer Schätzung dieser Schäden aus den Jahren 1945/46 wird schließlich dargelegt, ob – allein aus dem Blickwinkel der Infrastruktur und der Industrieanlagen – ein Restwert der japanischen Besatzungszeit an China übergegangen ist. Die Ergebnisse der Quellenforschung sind für den Leser in anschaulichen Graphiken aufbereitet und für weitere wissenschaftliche Bearbeiter in umfangreichen Tabellen dokumentiert. Zudem sind alle chinesischen und japanischen Ausdrücke bereits im Text auch durch entsprechende Schriftzeichen dargestellt, die in einem übersichtlichen Glossar zusammengetragen sind.