Die Gailinger Juden
Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Gailingen aus ihrer Blütezeit und den Jahren der gewaltsamen Auflösung
Jenny Bohrer, Eckhardt Friedrich, Berty Friesländer-Bloch, Heinz Heilbronn, Dagmar Schmieder
Im heutigen Gailingen sind nur noch tote Zeugen der ehemaligen blühenden jüdischen Gemeinde vorhanden:
Der grosse, am Waldrand gelegene Friedhof, eine Gedenktafel am Platz der ehemaligen Synagoge, das als Altenpension jür den Landkreis Konstanz dienende „Friedrichsheim „, das Gebäude des ehemaligen jüdischen Krankenhauses an der Dörfiinger Strasse, einzelne Patrizierhäuser im alten Ortskern, vor allem in der Rheinstrasse und eine Gedenktafel im Rathaus, die auf die jüdische Geschichte der Gemeinde hinweist.
Was ist aus den Menschen geworden, die in diesen Häusern gewohnt haben, wie haben sie gelebt, wie hat das Gemeindeleben ausgesehen, als sie noch daran teilnahmen?
Als Neu-Gailinger haben wir 1978 begonnen, diesen Fragen nachzugehen. Wir fragten zunächst die älteren Einheimischen nach ihren Erinnerungen aus der Zeit des Zusammenlebens mit ihren jüdischen Nachbarn.
Über die Zeit bis zum Beginn der Nazi-Ara erhielten wir reichlich Auskunft, wenn aber das Gespräch auf die Jahre zwischen 1930 und 1940 kam, wurden die Erinnerungen spärlich und die Erzähllust nahm ab. Uns wurde der Eindruck vermittelt, als sei mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Böse wie eine fremde, unwiderstehliche Macht über das zuvor friedvoll-harmonische Gemeindeleben hereingebrochen.
In welcher Weise hat sich nun die nationalsozialistische Judenverfolgung in Gailingen ausgewirkt?
Wir kamen dieser Frage in entscheidender Weise näher durch unsere Bemühungen, mit Überlebenden der ehemaligen jüdischen Gemeinde und deren Familienangehörigen in Kontakt zu kommen. Nicht von ungefähr geschah das über die Gräber des jüdischen Friedhofes, wo wir vor allem bei der alljährlich eine Woche vor Beginn des jüdischen Neujahrsfestes stattfindenden Gedenkfeier, unsere ersten Bekanntschaften machten. Unser Interesse fand freundliche Resonanz und tatkräftige Unterstützung. Der Friedhof war und ist für die ehemaligen Gailinger Juden und ihre Angehörigen aus der Schweiz, aus Israel, den USA und anderen Ländern meist der Bezugspunkt und Anlass zum Besuch der alten Heimat.
Wir möchten uns für die Offenheit und das Vertrauen bedanken, mit dem uns begegnet wurde. Durch die Gespräche und anvertrauten schriftlichen Unterlagen in Form von Tagebuch-Aufzeichnungen, Memoiren und Berichten ist uns ein Stück der deutschen und Gailinger Vergangenheit greifbarer und realer geworden. Um eine Vorstellung von der Blütezeit der jüdischen Gemeinde zu bekommen, haben wir uns auch um eine Rekonstruktion des Gemeindelebens von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bemüht. Ein brauchbares Mittel hierfür schienen uns die Ortsbereisungs-Protokolle des Bezirksamtes Konstanz zu sein.
Mit der Wiedergabe der folgenden Dokumente, Photos, Tagebuch-Aufzeichnungen und Berichte hoffen wir, einen lebendigen und informativen Beitrag zu leisten, durch den sich der Leser ein Bild vom jüdisch-christlichen Gemeindeleben in der zweiten Hälfte des 19. sowie am Anfang des 20. Jahrhunderts machen kann. Viel liegt uns daran, den Einfluss und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassenideologie auf das Alltagsleben der Gailinger Juden sichtbar werden zu lassen, die Eskalation der Dehumanisierung von zeitweisen oder dauerhaften Einschränkungen über die Vertreibung bis zu Deportation und Mord.