Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologischer Gerechtigkeitsforschung
Klaus F Röhl
Aus der Gerechtigkeitslehre des Aristoteles hat sich in der rechtsphilosophischen Tradition die Unterscheidung zwischen ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit entwickelt. Die ausgleichende Gerechtigkeit (justitia commutativa) gilt als die Gerechtigkeit des Privatrechts, die austeilende Gerechtigkeit (justitia distributiva) als die Gerechtigkeit des öffentlichen Rechts. Die Notwendigkeit methodischer Theoriebildung für die Erforschung subjektiver Gerechtigkeitsvorstellungen durch die Sozialpsychologie hat zu einer Systematisierung möglicher Gerechtigkeitsvorstellungen geführt, wie sie bisher in der Rechtsphilosophie kaum erreicht war. Sie zeigt, daß in dem Begriffspaar „austeilende“ und „ausgleichende“ Gerechtigkeit zwei unterschiedliche Dimensionen angesprochen sind, die es zu trennen gilt, nämlich einerseits sachliche Verteilungsprinzipien und andererseits das Verfahren und die Umstände ihrer Anwendung. Für dieses Mißverständnis kann sich die Rechtsphilosophie nicht auf Aristoteles berufen. Vielmehr erweist sich, daß Aristoteles die Grundprinzipien der modernen Equity-Theorie intuitiv vorweggenommen hat.